Auf zwei Säulen

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November 06, 2000, Berliner Zeitung

(Gastbeitrag Klaus F. Zimmermann)

Endlich wird über Zuwanderung diskutiert. Wer die Bevölkerung überzeugen will, muß aber den Bedarf ökonomisch fundiert begründen
 

Kommt es nach vielen verlorenen Jahren in dieser Legislaturperiode noch zur Verabschiedung eines Zuwanderungsgesetzes? Viel wäre damit gewonnen. Deutschland benötigt dringend Steuerungsinstrumente, um die Zuwanderung bedarfsgerecht zu dosieren. Unser Arbeitsmarkt und unsere sozialen Sicherungssysteme können davon nur profitieren. Die Geencard-Initiative hat einen "Wind of Change" ausgelöst. Diese Konstellation gilt es konstruktiv zu nutzen.

Natürlich erfordert Einwanderung stets auch Eingliederung, und sie muß von Zuwanderern und Einheimischen gleichermaßen gewollt sein. Verfassungstreue und ausreichende Sprachkenntniss darf erwarten, wer sein Land für Zuwanderung öffnet. Aber im Mittelpunkt des Nachdenkens muß jetzt die Definition unserer ökonomischen Interessen stehen. Nur auf diese Weise läßt sich die Zustimmung der einheimischen Bevölkerung erreichen. Der Zuwanderungsbedarf muß glaubhaft vermittelt werden. Genau damit tun sich Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften, aber auch die Wissenschaft, noch sehr schwer.

Was fehlt, ist eine umfassende Bewertung des deutschen Arbeitsmarktes. Wo fehlen wie viele Arbeitskräfte? Wie entwickelt sich der Bedarf in den einzelnen Branchen? Braucht Deutschland derzeit 70.000 IT-Fachleute aus dem Ausland oder nur 10.000? Fehlen dem Maschinenbau demnächst 40.000 Beschäftigte oder gar 120.000? Wo gibt es ein Überangebot an Arbeit, so daß die Zuwanderung in diesen Segmenten reduziert oder gestoppt werden sollte? Und wo mangelt es sogar schon an Ausbildungsplatzbewerbern, so daß wir vielleicht auch "Ausbildungsmigranten" brauchen? Das sind Fragen, auf die es bislang nur unvollkommene Antworten gibt.

Die empirische Datenlage ist unbefriedigend. Der Hinweis auf die Zahl der offenen Stellen reicht nicht aus, wenn zur gleichen Zeit im selben Arbeitsmarktsegment auch Arbeitslosigkeit herrscht. Ebensowenig genügt der Verweis auf den unbestreitbaren demographischen Wandel. Daß die deutsche Bevölkerung in den nächsten Jahren und Jahrzehnten um viele Millionen Menschen abnehmen wird, ist ein offenes Geheimnis. Natürlich lassen sich aus dem Bevölkerungsschwund auch Bedarfszahlen für den Arbeitsmarkt hochrechnen. Beispielsweise werden uns schon bald zahllose Facharbeiter fehlen - je nach Prognose beträgt das Defizit mehrere Millionen Personen. Das Ausmaß der gelenkten Zuwanderung allein an den demographischen Schätzungen zu orientieren, wäre dennoch nicht ausreichend, weil dabei kurzfristige Bedarfsänderungen auf dem Arbeitsmarkt außen Acht blieben. Aus arbeitsmarktpolitischer Sicht wäre der Nutzen einer neuen Zuwanderungspolitik begrenzt, wenn unklar bliebe, welcher Bedarf gedeckt werden muß. Es ist deshalb höchste Zeit, eine solche Bedarfsanalyse systematisch und von unabhängiger Seite zu beginnen.

Ohne diese Information kann die Reaktion der Politik nicht angemessen ausfallen. Dessen ungeachtet sollte uns klar sein, daß letztlich ein umfangreiches Maßnahmenpaket geschnürt werden muß, um die anstehenden Veränderungen bewältigen zu können. Zuwanderung allein löst die Probleme keinesfalls. Selbst bei einer Nettozuwanderung von 200.000 Personen jährlich würde die Erwerbspersonenzahl in Deutschland bis zum Jahr 2020 um rund 3 Millionen zurückgehen. Denn insbesondere nach dem Jahr 2005 wird sich die Zahl der einheimischen Erwerbspersonen kontinuierlich verringern. Nach dem Jahr 2015 dürfte der Rückgang Jahr für Jahr mehr als 400.000 Personen betragen. Diesem Trend durch eine erhöhte Erwerbsbeteiligung begegnen zu wollen, erscheint absurd. Dazu müßte sie vom heute schon hohen Wert von annähernd 75 Prozent auf fast 85 Prozent in zwanzig Jahren steigen.

Gleichzeitig wird der wirtschaftliche Strukturwandel dafür sorgen, daß die Zahl der Arbeitsplätze für Geringqualifizierte weiter abnimmt. Bis zum Jahr 2010 dürften im Verarbeitenden Gewerbe schätzungsweise 900.000 Stellen wegfallen. Im Bausektor kommt ein Verlust von rund 300.000 Stellen hinzu, in der Landwirtschaft gehen bis zu 350.000 Arbeitsplätze verloren, bei den Bahnen etwa 80.000. Aber auch der Dienstleistungssektor wird dort einbüßen, wo er nicht neue Produkte anbietet, sondern seinen Service zunächst rationalisiert, etwa im Finanzdienstleistungsbereich oder bei der Nachrichtenübermittlung. Mit Ausnahme des letzten Sektors werden von diesem Trend - so ungenau auch diese Zahlen sein dürften - überwiegend Geringqualifizierte betroffen sein. Diese Gruppe stellt schon heute den Großteil der Arbeitslosen, und wir müssen uns darauf einstellen, daß in nicht ferner Zukunft hohe Arbeitslosigkeit bei Ungelernten mit einem eklatanten Fachkräftemangel in vielen Branchen einhergehen wird. Auch das ist es, was eine gezielte Auswahl von - qualifizierten - Zuwanderern im Rahmen einer umfassenden Gesetzgebung so wichtig macht.

Hinzukommen müssen Maßnahmen wie eine fundamentale Reform der Alterssicherung, die Verlängerung der Lebensarbeitszeit und eine Verkürzung der Ausbildungszeiten. Geringqualifizierte, die einfache Dienstleistungen erbringen, müssen gefördert werden, damit sie im Hightech-Zeitalter nicht völlig den Anschluß verlieren. Was die Steuerung der Zuwanderung anbetrifft, so muß sie kurz- und langfristigen Anforderungen genügen. Deshalb läge es nahe, die Zuwanderungspolitik auf zwei Säulen zu gründen.

Säule eins: Im Hinblick auf die mittel- und langfristigen Erfordernisse sollte eine jährliche Zuwanderungsquote für dauerhafte Immigration nach Deutschland eingeführt werden. Sie sollte keinen starken Schwankungen unterliegen, sondern eine gewisse Stetigkeit erreichen. Eine Größenordnung von 200.000 bis 250.000 Personen erscheint dabei als untere Grenze. Es ist politisch zu entscheiden, ob privilegierte Gruppen wie Spätaussiedler oder ausländische Familienangehörige darunter fallen sollten. Auch wird eine vernünftige Lösung zur Berücksichtigung des Asylbewerberaufkommens in diesem Zusammenhang gefunden werden müssen.

Eine gezielte Auswahl von Zuwanderern nach Gesichtspunkten wie Qualifikation, Sprachkenntnissen oder Alter kann dafür sorgen, daß nicht auch solche Zuwanderer ins Land kommen, die auf dem Arbeitsmarkt kein Unterkommen finden. Nüchtern betrachtet geht es darum, die "Besten" für Wirtschaft und Gesellschaft zu finden. Je stärker der internationale Wettbewerb um qualifizierte Zuwanderer wird, um so wichtiger wird dies sein.

Säule zwei: Der kurzfristige Adhoc-Bedarf einzelner Branchen könnte zwar im Rahmen der oben beschriebenen Quote gedeckt werden, sinnvoller allerdings wäre es, hierfür ein Auktionsverfahren für befristete Einreisen einzuführen. Firmen könnten gegen entsprechende Gebote das Recht ersteigern, in begrenztem Umfang Arbeitskräfte auf den internationalen Märkten zu suchen, die im Rahmen zeitlich begrenzter Aufgaben für sie tätig werden. Die in den staatlichen Auktionen eingenommenen Gelder könnten in unser Bildungssystem fließen.

So simpel und kaltschnäuzig diese ökonomischen Gesichtspunkte klingen mögen - es führt kein Weg daran vorbei, sie in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen. Die von der Bundesregierung eingesetzte "Unabhängige Kommission Zuwanderung" soll im kommenden Jahr ihre Vorschläge auf den Tisch legen. Bis dahin sollten auch systematische Bedarfsanalysen angestellt werden. Danach bliebe Zeit, eine Gesetzesinitiative zu starten, welche die gesellschaftlichen und ökonomischen Gesichtspunkte des Themas gleichermaßen berücksichtigt und auf eine der drängendsten Fragen unserer Zeit endlich eine schlüssige Antwort gibt. Der heraufziehende Wahlkampf mag sich andere Themen suchen, das Thema Zuwanderung taugt dafür nicht.


Reprinted with permission.

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