Das Versagen des Korporatismus

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June 11, 2005, Frankfurter Allgemeine Zeitung

(Gastbeitrag von Nico Fickinger und Klaus F. Zimmermann)

Das „Bündnis für Arbeit“ von 1998 bietet ein abschreckendes Beispiel der Erfolglosigkeit
 

Es gibt mindestens zwei Zitate, die Bundeskanzler Gerhard Schröder taktisch wohl stets bereuen muss – erst recht jetzt, vor der für Mitte September geplanten Neuwahl. „Wenn es uns nicht gelingt, in den ersten Jahren einen Durchbruch zu erzielen, dann haben wir es nicht verdient, weiter zu regieren“, sagte er am 26. Juli 1998 mit Blick auf die Massenarbeitslosigkeit. „Wir wollen uns jederzeit daran messen lassen, in welchem Maße wir zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beitragen“, hieß es dann nach der Bundestagswahl, am 10. November 1998. Durchbruch? Unter 3,5 Millionen wollte Rot-Grün die Zahl der Arbeitslosen drücken, jetzt sind es rund 4,8 Millionen, und zwischenzeitlich ist sogar die Marke von 5 Millionen erreicht worden. Erst mit der Agenda 2010 vor zwei Jahren kam es zu greifbaren politischen Neuerungen, weil der Korporatismus gescheitert war. Nico Fickinger, Berliner Korrespondent der Wirtschaftsredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und Klaus F. Zimmermann, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, erklären, warum die früheren Versuche des Kanzlers, den Arbeitsmarkt mit einem inszenierten „Bündnis für Arbeit“ in Schwung zu bringen, versagen mussten. Sie warnen nachdrücklich vor einer Wiederauflage solcher runden Tische – auch unter veränderten politischen Bedingungen. (orn.)

In seiner Regierungserklärung am 10. November 1998 vor dem Deutschen Bundestag bekannte Gerhard Schröder: „Die Bundesregierung ist sich völlig im klaren darüber, dass sie ihre Wahl wesentlich der Erwartung verdankt, die Arbeitslosigkeit wirksam zurückdrängen zu können.“ Dass am Ende ausgerechnet zu viel arbeitsmarktpolitischer Ehrgeiz die erste rot-grüne Koalition aus dem Gleis warf und ausgerechnet dem Medienkanzler ein Kommunikationsproblem zum Verhängnis wurde, kommt einer doppelten Ironie der Geschichte gleich.

Doch hat sich die Bundesregierung ihr Grab selbst geschaufelt: Mit der Einführung von „Hartz IV“ definierte sie zu Jahresbeginn praktisch über Nacht die meisten Sozialhilfeempfänger zu Arbeitslosen um. Gleichzeitig übernahm der Bund für diese neue Klientel die politische Verantwortung, indem er die Bundesagentur für Arbeit (BA) beauftragte, die Betreuung der Langzeitarbeitslosen in Arbeitsgemeinschaften mit den Kommunen zu organisieren. Mit dem dadurch provozierten Anstieg der Zahl der Arbeitslosen auf weit über 5 Millionen, dem höchsten Stand in der deutschen Nachkriegsgeschichte, wurde dem Reformkurs medial das Genick gebrochen.

Die Popularität der Bundesregierung und der SPD geriet in einen tiefen Fall; selbst in ihrem Stammland Nordrhein-Westfalen wurde die Sozialdemokratie nach fast vier Jahrzehnten aus dem Regierungsamt gejagt. Union und FDP, die weite Teile der Hartz-Reformen mitgetragen haben, blieben von Kritik verschont. Das Desaster auf dem Arbeitsmarkt wurde alleine der rot-grünen Koalition angelastet.

Die überraschende, aber mutige Flucht in Neuwahlen böte die Chance zu einem Plebiszit über die richtige Reformpolitik. Doch wird sie auch genutzt werden? Noch liegen die Arbeitsmarktkonzepte von Rot-Grün und Schwarz-Gelb weit auseinander: Beitragssenkungen, die Aufspaltung der Nürnberger Bundesagentur, strengere Voraussetzungen für den Arbeitslosengeldbezug, eine stärkere Effizienzkontrolle der Arbeitsmarktpolitik, eine Lockerung des Kündigungsschutzes und die Öffnung der Flächentarifverträge für betriebliche Beschäftigungsbündnisse sind nur einige der Stichworte, die die Trennlinie zwischen beiden Seiten markieren.

Doch Papier ist geduldig, und die vorgesehene vorgezogene Bundestagswahl im Herbst dürfte die Bekenntnisfreudigkeit aller Seiten über ihr Reformkonzept wieder lähmen – getreu dem Motto: Wer sich zuerst bewegt, hat politisch schon verloren. Es steht also zu befürchten, dass statt alternativer Reformkonzepte wieder Parolen und der Ruf nach undefinierter Gemeinsamkeit das Bild des Wahlkampfes beherrschen werden. Denn beide Seiten wissen: Ein Patentrezept für mehr Beschäftigung, dessen Erfolge sich schon nach wenigen Monaten im Nürnberger Zahlentableau niederschlagen würde, gibt es nicht. Und für teure Eingriffe – ob zur wünschenswerten Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen oder für schädliche Kosmetik zur Entlastung der Statistik fehlt der Regierung das Geld.

In ihrer Ratlosigkeit flüchtet sich die Politik gerne an den Runden Tisch. Bundespräsident Horst Köhler hat der Konzertierung, indem er Regierung und Opposition ihrer „patriotischen Verantwortung“ gemahnte, auch noch eine moralische Unbedenklichkeitserklärung ausgestellt. Ein nationaler „Pakt für Deutschland“ soll es richten, an dem alle gesellschaftlichen Kräfte beteiligt sind. Mangels politisch opportunerer Alternativen und angesichts der erheblichen politischen Risiken für die Parteien ist eine Neuauflage dieser Diskussion nach der Wahl wahrscheinlich, um die Politik „sozial abzufedern“ und „die Menschen mitzunehmen“.

Der Korporatismus, das ist zu befürchten, wird dadurch deutlich belebt. Doch sind solche drei- oder vierseitigen Absprachen dem deutschen Wirtschaftssystem fremd – aus gutem Grund. Bevor nach Kanzlerrunden, Beschäftigungsbündnissen oder nationalen Pakten gerufen wird, ist daher kritisch zu hinterfragen, ob sie tatsächlich überlegene Ergebnisse im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit versprechen.

Die Erfahrungen mit dem 1998 geschlossenen „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ – dem ersten langfristig institutionalisierten Beschäftigungspakt in der Geschichte der Bundesrepublik, wenn man einmal von der Konzertierten Aktion absieht – sind indessen ziemlich ernüchternd: Die anfänglichen Erfolge beim Abbau von Arbeitslosigkeit, beim Aufbau von Beschäftigung und der Senkung der Sozialversicherungsbeiträge wurden schon 2003 größtenteils wieder aufgezehrt.

Versucht man den Beitrag des Bündnisses auf den Ausbildungsmarkt und auf die Tarifpolitik statistisch abzuschätzen, so ergibt sich nach ersten groben Berechnungen im Saldo ein dickes Minus: Auf dem Ausbildungsmarkt hat sich das Bündnis nur in seinem ersten Jahr positiv ausgewirkt und zum Schluß die Lehrstellenlücke sogar provoziert. In der Tarifpolitik kam es zwar 2000 und 2001 zu beschäftigungsfreundlichen Abschlüssen, doch wurde dieser positive Effekt durch überzogene Lohnrunden in den Jahren 1999 und 2002 mehr als zunichte gemacht. Auch die von der Regierung angestrebten langen Laufzeiten der Tarifverträge und die von Rot-Grün betriebene Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik haben die Lohnabschlüsse – im ersten Fall leicht, im zweiten Fall kräftig – nach oben getrieben und dadurch Arbeitsplätze gefährdet, wenn nicht gar zerstört.

Die empirische Bilanz legt den Schluß nahe, der Staat habe immer dort, wo er steuernd oder vermeintlich ausgleichend in die Marktprozesse eingriff, Beschäftigung zunichte gemacht: entweder durch höhere Steuern und Abgaben, um die ineffektiven Interventionen zu finanzieren, oder durch falsche Anreize, die kontraproduktive Wirkung entfalteten.

Nun mag ein misslungener Konzertierungsversuch in der Praxis nicht ausreichen, um das Projekt dreiseitiger Absprachen zwischen Regierung, Wirtschaft und Gewerkschaften gänzlich in Frage zu stellen. In theoretischer Hinsicht ist das Bild jedenfalls diffuser. Es gibt mindestens drei Gründe gegen solche Kanzlerrunden, aber ebenso viele, die aus Sicht der Regierung dafür sprechen: So nehmen deren Verhandlungsmacht und Einflußmöglichkeiten zu, wenn sie die Sozialpartner an den Runden Tisch bestellt. Die Regierung kann verhindern, daß die Verbände ihre Probleme zu Lasten Dritter lösen, und dadurch kann sie „Gemeinwohlinteressen“ besser durchsetzen. Schließlich kann sie für eine als „gerecht“ empfundene Lastenverteilung sorgen und in jedem Fall den Bürgern Handlungswillen suggerieren.

Ein zeitlich begrenzter Reparaturbetrieb

Auch mögen die faktische Machtposition und die Expertise der Sozialpartner, die meist die Selbstverwaltungsgremien der Sozialversicherungsträger dominieren, die Regierung zusätzlich veranlassen, die Kooperation mit Arbeitgebern und Gewerkschaften zu suchen – zumal drittens die komplexen Wirkungszusammenhänge auch ohne formellen Sozialpakt zu einer zeitlichen und inhaltlichen Koordination der Maßnahmen zwingen. Nur dann lassen sich Synergieeffekte nutzen und konterkarierende Wirkungen vermeiden.

Andererseits aber bergen korporatistische Lösungen die Gefahr, daß Verantwortlichkeiten verwischt, Besitzstände verteidigt, Reformen verhindert und die verfassungsgemäß vorgesehenen Entscheidungsorgane - insbesondere das Parlament - umgangen oder präjudiziert werden. Auch ist zu befürchten, daß sich die Gewerkschaften Zugeständnisse in der Tarifpolitik teuer abkaufen lassen, beispielsweise durch einen Ausbau des Sozialstaats oder die Einführung neuer Regulierungen. Ein weiteres Problem dreiseitiger Absprachen liegt in der mangelnden Verpflichtungsfähigkeit der Akteure: Die Regierung hat keine Handlungsvollmacht für den Bundestag geschweige denn den Bundesrat, die Gewerkschaftsführer besitzen keine Prokura gegenüber der Basis und die Arbeitgeber erst recht nicht gegenüber ihren Mitgliedsverbänden. Rechtlich bindende Zusagen kann somit keiner der Beteiligten machen. Formaljuristisch reicht daher ein Beschäftigungspakt nicht über wohlklingende Absichtserklärungen hinaus.

Dennoch ließe sich ein idealtypisches Bündnis konstruieren, das als zeitlich begrenzter Reparaturbetrieb institutionelle Fehlanreize und beschäftigungshemmende Regulierungen beseitigt, ohne volkswirtschaftlichen Schaden anzurichten. Ein derartiges Bündnis müßte – als notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingung – zunächst einen Konsens unter den Beteiligten über die Ausgangslage und die nötigen Reformschritte herstellen. Dann müsste einer klaren Aufgabenteilung Geltung verschafft werden: Die Tarifvertragsparteien, die sich hauptsächlich den Interessen ihrer Mitglieder verpflichtet fühlen, wären nunmehr auf das Beschäftigungsziel zu verpflichten; der Staat hätte diese Politik durch geeignete Rahmenbedingungen zu erleichtern. Er dürfte sich dabei aber nicht arbeitsmarktpolitisch in die Pflicht nehmen lassen und hätte jede Art von Tauschhandel oder Entschädigung abzulehnen. Um eine möglichst hohe Wirksamkeit zu erzielen, müßten die Maßnahmen von den Beteiligten so verbindlich wie möglich zugesagt, am Bündnistisch inhaltlich und zeitlich koordiniert sowie ihre Einhaltung durch geeignete Anreize sichergestellt werden. Der Blick in andere Länder – insbesondere die Niederlande – zeigt, dass solche dreiseitigen Absprachen möglich sind und zumeist sogar von einer langfristig moderaten Tarifpolitik flankiert werden. Und in Deutschland?

Auch hier hilft ein Blick zurück auf das „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“, wenn es gilt, die Erfolgsfaktoren für einen funktionierenden Sozialpakt zu identifizieren. Das Bündnis musste zwangsläufig scheitern – das hat eine Befragung der Teilnehmer bestätigt. Denn keine der gerade genannten notwendigen Bedingungen war erfüllt: Zwar sollte die vom Kanzleramt eingesetzte Benchmarking-Gruppe den nötigen Grundkonsens herbeiführen. Doch der Drang der Wissenschaftler in die Öffentlichkeit – beseelt vom eigenen Sendungsbewußtsein, gedrängt vom Kanzleramt und geschickt skandalisiert von der IG Metall – hat viele Reformvorschläge vorzeitig vereitelt. Hinzu kam, daß der zögerlich agierende Bundeswirtschaftsminister wenig Interesse hatte, die von den Wissenschaftlern zusammengetragenen Fakten als Ausgangspunkt für eine grundlegende Standortdiskussion zu nutzen. Der Abschlußbericht, der nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center zu einer geo- und parteipolitisch unpassenden Zeit erschien, konnte daher wieder in der Schublade verschwinden, ohne offiziell an den Bundeskanzler übergeben worden zu sein.

Eine ordnungspolitische Grundsatzdebatte über die Arbeits- und Aufgabenteilung fand im Bündnis nicht statt. Statt eines konkreten Pflichtenheftes wurde eine unstrukturierte Liste von Zielen ohne Prioritäten vorgelegt, die zum Teil sogar widersprüchlich und kontraproduktiv waren. Weder wurde eines der Ziele quantifiziert, noch war die Rolle der Tarifpolitik geklärt. Dem Bündnis fehlte damit die Geschäftsgrundlage. Es gab keinen Masterplan, der Schritt für Schritt hätte abgearbeitet werden können. Die einzelnen Maßnahmen wurden weder zeitlich noch inhaltlich aufeinander abgestimmt. Statt an einem langfristigen Konzept orientierte sich das Bündnis immer stärker an kurzfristigen tagespolitischen Aktivitäten und verzettelte sich, statt klare Prioritäten zu setzen, in seiner vielgliedrigen Struktur von Arbeitsgruppen, Branchen- und Themendialogen.

Eine Nebelkerze im Wahlkampf

Hinzu kam, dass fast alle beschäftigungspolitisch relevanten Themen nicht im Bündnis besprochen wurden. Verabredet wurde am Kanzlertisch nur, was unter den Sozialpartnern unstrittig und zuvor nicht in der Steuerungsgruppe zerredet und durch Vorfestlegungen des Funktionärsapparats verhindert worden war. Die Bundesregierung hat sich mithin nicht als Motor, sondern nur als Moderator begriffen und das Bündnis lediglich formal-medial, aber nicht inhaltlich-konzeptionell zur Chefsache gemacht. Kurz: Der Kanzler ließ die Sozialpartner gewähren. Von denen aber waren keine gemeinwohlorientierten Initiativen zu erwarten. Stattdessen versuchten beide Seiten, die Runde taktisch zu nutzen und jeweils für die eigenen Ziele zu instrumentalisieren. Die Gewerkschaften wollten mit Hilfe des Bündnisses in der Tarifpolitik erreichen, was ihnen bisher in Verhandlungen mit den Arbeitgebern verwehrt geblieben war. Umgekehrt wollten die Arbeitgeber die Gewerkschaften mit Hilfe des Bündnisses disziplinieren und zu der Lohnmäßigung verpflichten, die sie in freien Verhandlungen nicht durchzusetzen vermochten.

Diese Liste organisatorisch-konzeptioneller Mängel liefert erste Anhaltspunkte dafür, was sich in jedem Fall ändern müsste, wenn ein neues Bündnis Erfolg haben soll. So müssten der Bündnisapparat verkleinert, die Vorbereitung durch die zweite Ebene verringert und stattdessen die Dynamik der Spitzengespräche stärker genutzt werden. Zudem müßte die Kanzlerrunde dem Medienrummel entzogen und mit einem neuen, weniger irreführenden und weniger verheißungsvollen Begriff – die Treffen selbst können ja keine Arbeit schaffen – etikettiert werden.

Doch bieten auch solche Vorkehrungen keine Gewähr dafür, daß sich die Beteiligten bündniskonform verhalten. An der mangelnden Bereitschaft der Gewerkschaften, sich auf eine vorab politisch verhandelte Lohnmoderation als Voraussetzung für mehr Beschäftigung einzulassen, wird sich nichts ändern. Die Wirtschaft wird sich auch bei leicht verbesserten Standortbedingungen kaum in der Lage sehen, konkrete Beschäftigungszusagen abzugeben. Und die Politik wird weiter zaudern, den Organisationsinteressen der Verbände Einhalt zu gebieten.

Selbst wenn die formalen Verbesserungsvorschläge beherzigt würden, wären damit nur die notwendigen, aber nicht die hinreichenden Erfolgsbedingungen erfüllt. Ebenso entscheidend wie die Konstruktion des Bündnisses ist nämlich seine (partei-)politische Funktion. Auch hier liefern die Erfahrungen mit dem „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ hinreichend Anschauungsmaterial, wie die Idee der Konzertierung, die in vielen europäischen Ländern zumindest vorübergehend ansehnliche Erfolge hervorgebracht hat, durch die parteipolitische Instrumentalisierung zum Scheitern verurteilt wurde.

So diente das Bündnis Gerhard Schröder im Wahlkampf 1998 zunächst als Nebelkerze; mit Verweis auf den Runden Tisch brauchte er sein Wirtschaftsprogramm nicht offenzulegen. Nach der Regierungsbildung war das Bündnis ein Vehikel zur Machtkonzentration in der innerparteilichen Auseinandersetzung mit dem damaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine. Schröder gelang es dadurch, wesentliche Kompetenzen in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik an sich zu ziehen und damit nicht nur Lafontaine den Wind aus den Segeln zu nehmen, sondern auch das unter gewerkschaftlicher Flagge segelnde und vom früheren IG-Metall-Vize Walter Riester gesteuerte Arbeitsministerium auf Kanzlerkurs zu bringen.

Der überraschende Rücktritt Lafontaines gab der Kanzlerrunde strategisch den Todesstoß; auch das zeigt, welche Bedeutung die politischen Rahmenbedingungen haben. Die Bundesregierung verlor damit jegliches Drohpotential gegenüber den Sozialpartnern und entließ diese damit aus dem Mitwirkungszwang und aus der Schweigepflicht: Da die SPD-Linke ihren Wortführer im Kabinett verloren hatte und Schröder als neuer Parteichef notgedrungen weiter nach links rücken mußte, um dieses Vakuum zu füllen, brauchten die Gewerkschaften keine Sanktionen zu fürchten. Aber auch die Arbeitgeber mussten sich keine Sorgen machen, da sich mit dem Rücktritt des Enfant terrible Lafontaine der wichtigste Apologet einer unternehmerfeindlichen Politik selbst aus dem Kabinett katapultiert hatte. Von Schröder, so viel war allen Beteiligten klar, war ein Konfrontationskurs gegen die Wirtschaft nicht zu erwarten.

Eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners

Der Blick zurück zeigt, dass von einem Beschäftigungsbündnis immer dann keine Erfolge zu erwarten sind, wenn es nicht systematisch angelegt ist und sein Entstehen nur parteitaktischen Überlegungen verdankt, aber nicht von übereinstimmenden ökonomischen Grundüberzeugungen getragen wird. Die gegenwärtige politische Lage ist aber just von diesen beiden Merkmalen geprägt: von einer re-aktivistischen und wahltaktisch inspirierten Ad-hoc-Politik und dem Fehlen eines Beschäftigungskonsenses. Ob sich diese Ausgangssituation nach dem Urnengang im Herbst gleichsam über Nacht verbessert, ist fraglich. Von einer Bündnis-Neuauflage ist daher auch unter veränderten politischen Konstellationen – einer schwarz-gelben Regierung, einer großen Koalition oder einer Fortsetzung von Rot-Grün mit reformpolitischer Tolerierung durch die Opposition im Bundesrat – abzuraten. Insbesondere die Bildung einer großen Koalition böte nicht zwangsläufig neue Perspektiven, sondern führte nur zu einer Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners. Richtige Reformansätze würden verwässert oder bis zur Unkenntlichkeit mit klientelpolitisch opportunen Beigaben vermischt.

Das Vermittlungsverfahren zur Arbeitsmarkt- und zur Gesundheitspolitik im Agenda-Jahr 2003 hat gezeigt, dass eine große Koalition immer zum jeweils schlechteren Ergebnis führt. So ist es dem Widerstand von SPD und Grünen zu verdanken, dass die Langzeitarbeitslosen als Fürsorgeempfänger nicht von den Kommunen betreut, sondern der ohnehin überlasteten Bundesagentur für Arbeit noch zusätzlich aufgebürdet wurden. Ergebnis: Die Arbeitslosigkeit lässt sich nicht wirksam bekämpfen. Und die christlich-liberale Klientelpolitik hat dafür gesorgt, dass noch immer kein Vertragswettbewerb zwischen Krankenkassen, Ärzten und Kliniken herrscht. Die Folge: Die Krankenversicherungsbeiträge gehen kaum zurück. Weitere derartige „Kompromisse“ beim anstehenden Umbau der Arbeitslosen-, Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung möchte man sich gar nicht erst ausmalen.

Jede Bundesregierung, die wirklich an einem Abbau der Massenarbeitslosigkeit interessiert ist, muß zunächst Fehler der Vergangenheit rückgängig machen. Dazu gehören die Beendigung der föderalen Verantwortungslosigkeit, weitere Steuervereinfachungen durch Abbau von Subventionen, eine deutliche Reduktion der Lohnnebenkosten durch eine Umfinanzierung der reformierten sozialen Sicherungssysteme durch eine erhöhte Mehrwertsteuer sowie der Aufbau dezentraler Organisations- und Verantwortungsstrukturen bei der Betreuung der Arbeitslosen. Ferner sind Innovationen zur Erneuerung der Wirtschaft nötig. Dazu trägt eine allgemeine Erhöhung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich bei. So kann der Fachkräftemangel bekämpft und einfache Arbeit preiswerter werden. Zukunftsträchtige Wirtschaftszweige wie der Bildungs- und Weiterbildungssektor, der Bereich Innovationen und Forschung, die Gesundheitsbranche, die Kinder- und Altenbetreuung und haushaltsnahe Dienstleistungen müssen durch Wettbewerb gestärkt werden.

Was das Land am allerwenigsten braucht, ist ein runder Tisch. Zu dem vom Bundeskanzler eingeleiteten Alleingang gibt es derzeit keine Alternative. Doch sollte das politische Schicksal, das Helmut Kohl 1998 ereilte und Gerhard Schröder im Herbst womöglich bevorsteht, jeder neuen Regierung eine Warnung sein: Gegen den offenen Widerstand der Gewerkschaften lässt sich nur schwer eine Wahl gewinnen. Solange die Sozialpartner nicht bereit sind, einen beschäftigungsorientierten Reformkurs freiwillig zu unterstützen, muß die Politik die Verbände nicht nur zwingen, ihre Organisationsinteressen dem Ziel der Schaffung von Arbeitsplätzen unterzuordnen. Sie ist auch gut beraten, die Vetomacht der Verbände wirksam zu begrenzen.


Reprinted with permission.

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