Die demographische Entwicklung ist erbarmungslos

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August 13, 2005, General-Anzeiger Bonn

(Interview mit Klaus F. Zimmermann)

IZA-Direktor Klaus Zimmermann über die Zukunft der Rente, ihre Finanzierungsprobleme, das Renteneintrittsalter und den Blickwinkel der Politik
 

1. GA: Mit Ihrer Forderung nach einer raschen Einführung des Renteneintrittsalters von 70 Jahren haben Sie Politik und Wähler aufgeschreckt. Was treibt Sie an, den Menschen so Angst zu machen?

Natürlich ist ein späterer Renteneintritt bei den Wählern unpopulär. Deshalb haben uns alle Parteien mit ihren Wahlprogrammen im Unklaren gelassen, wie sie dieses Reitzthema angehen wollen. Und deshalb gibt es jetzt auch diese künstliche Aufregung, weil niemand Flagge zeigen will. Die Politik schaut gern nur auf die kurzfristigen Finanzierungslücken durch die hohe Arbeitslosigkeit und verschließt nach wie vor die Augen vor den langfristigen Lasten, die auf die Versicherten zukommen. Dabei sind die Probleme seit 20 Jahren bekannt.

2. GA: Warum glauben Sie, dass eine Anhebung des Renteneintrittsalters unvermeidbar ist?

Die demographische Entwicklung ist erbarmungslos. Das ist wie bei einer Lawine. Ist sie einmal in Bewegung, kann sie keiner mehr stoppen. Durch den Geburtenrückgang der letzten Jahrzehnte wird die Zahl der Leistungsempfänger in der Gesellschaft bald deutlich größer sein als die Zahl der arbeitenden Menschen. Gleichzeitig steigt die Lebenserwartung ständig an, so dass die Menschen immer länger Rente beziehen.

3. GA: Ihr Kollege Herr Prof. Rürup, der Chef des Sachverständigenrates zur wirtschaftlichen Entwicklung, hat doch gerade gesagt, die derzeitige finanzielle Entwicklung der Rentenversicherung liege im Prognoserahmen und sei unter Kontrolle.

Da will ich gar nicht widersprechen. Die Reformen der letzten Jahre wirken und haben zur Stabilisierung der Rentenfinanzen beigetragen. Doch das ist mittel- und langfristig bei weitem nicht ausreichend, um die Beitragssätze auf dem heutigen Niveau zu stabilisieren. Wenn man einen weiteren Anstieg der Lohnnebenkosten vermeiden will, gibt es nur zwei Wege: Entweder muss man das Rentenniveau weiter absenken oder die Lebensarbeitszeit verlängern. Deshalb habe ich prognostiziert, dass das reguläre Renteneintrittsalter in 20 Jahren deutlich höher sein wird. Bis jetzt denken die großen Parteien allerdings noch nicht einmal konkret daran, die von Rürup vorgeschlagene Rente mit 67 umzusetzen. Da dieses Konzept nicht ohne empfindliche Beitragssatzsteigerungen auskommt, müsste man das Renteneintrittsalter aber eigentlich weiter erhöhen. Deshalb mein Vorschlag zur Rente mit 70.

4. Und woher kommen die Arbeitsplätze für die Älteren, die jetzt bis 70 arbeiten sollen?

Wir haben doch schon jetzt mit dem einsetzenden Fachkräftemangel zu kämpfen. In Zukunft können es sich die Betriebe schlichtweg nicht mehr leisten, die älteren Arbeitnehmer – erfahrene und leistungsfähige Kräfte – aus dem Erwerbsprozess auszugrenzen. Man sollte die Anpassungsfähigkeit des Arbeitsmarkts nicht unterschätzen. Wenn künftig mehr Ältere arbeiten wollen und sollen, dann wird es mehr Investitionen in ihre Qualifizierung geben. Die Weiterbildung und berufliche Neuorientierung muss ab dem 45. Lebensjahr gezielt angegangen werden, um das Humankapital frisch zu halten und berufliche Veränderungen proaktiv zu begleiten. Außerdem werden sich flexiblere Entlohnungssysteme entwickeln, um dem betrieblichen Risiko eines Leistungsabfalls bei den Älteren Rechnung zu tragen. All das sorgt für neue Arbeitsplätze.

5. GA: Lässt sich die Rente mit 70 nicht durch höheres Wirtschaftswachstum vermeiden?

Das ist eine schöne Illusion. Es stimmt zwar, dass mehr Wachstum zu zusätzlichen Beitragseinnahmen führt. Aber die Renten sind an die Löhne gekoppelt, steigen also im gleichen Umfang mit. Außerdem wird es in einer alternden Gesellschaft immer schwerer, hohe Wachstumsraten zu erzielen. Deshalb sollte man auch nicht davon ausgehen, dass die Arbeitslosigkeit wie von selbst verschwindet und auf diesem Weg mehr Geld in die Rentenkassen kommt.

6. GA: Die Menschen wollen aber nicht mehr so lange arbeiten!

Es wird leider kaum anders gehen. Sonst wird man bald nur noch eine Mindestrente finanzieren können. Damit oder mit weiteren Beitragssteigerungen riskiert man, dass sich die Flucht aus der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung noch verstärkt. Im Übrigen sollte man eine längere Lebensarbeitszeit auch als Chance begreifen: Arbeit haben, gebraucht werden, etwas bewegen können, ist ja etwas, was vielen Menschen eine Perspektive bringt. Natürlich muss es mehr berufliche Flexibilisierung über den Lebenszyklus hinweg geben. Dazu gehört selbstverständlich auch, dass der Renteneintritt flexibel gestaltet wird. Konkret heißt dass: Innerhalb eines Fensters von 10 Jahren – fünf Jahre vor und fünf Jahre nach dem gesetzlichen Renteneintrittsalter – sollten die Arbeitnehmer frei wählen können, wann sie in Rente gehen. Wer früher geht, muss entsprechende Abschläge in Kauf nehmen, wer länger bleibt, kann dann auch mehr Rente erwarten. Das ist ein faires Prinzip. Im Übrigen kann durch individuelle Altersteilzeitmodelle ein gleitender Übergang in den Ruhestand ermöglicht werden.

7. GA: Brauchen wir nicht einen vollständigen Systemwechsel?

Das Umlagesystem, bei dem die jüngere Generation die ältere finanziert, ist in der Tat bedroht. Die ältere Generation hat den Vertrag gebrochen, indem sie sich üppige Finanzierungsregelungen genehmigte und nicht für den nötigen Nachwuchs sorgte, um das System zu erhalten. Deshalb ist zum einen eine Mehrwertsteuererhöhung zur Umfinanzierung der Rentensysteme erforderlich, die die Rentner stärker an der Lösung der Finanzprobleme beteiligt. Zum anderen muss die Umlagefinanzierung schrittweise durch mehr Kapitaldeckung ergänzt werden. Dabei werden wir an einer privaten Pflichtversicherung nicht vorbeikommen. Die Party ist vorbei.


Reprinted with permission.

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