Wie Deutschland wieder Weltmeister wird (Teil 2)

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July 31, 2005, Welt am Sonntag

(Gastbeitrag von Klaus Zumwinkel und Klaus F. Zimmermann)

Deutschland ist wie eine Fußballmannschaft, finden Post-Chef Klaus Zumwinkel und DIW-Präsident Klaus Zimmermann. In der vergangenen Woche beschrieben sie, wie es seine Abwehr neu aufstellen könnte. Im zweiten Teil geht es um Mittelfeld und Angriff.
 

Nicht nur im Fussball war Deutschland früher Weltmeister. Auch wirtschaftlich konnte die Bundesrepublik mit den Besten mithalten. Seit den 1990er Jahren geht es abwärts. Deshalb, finden Deutsche-Post-Chef Klaus Zumwinkel und Klaus Zimmermann, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin und Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), muß sich die deutsche Wirtschaft ändern. Wie Bundestrainer Jürgen Klinsmann die Nationalelf so wollen Zumwinkel und Zimmermann die Republik neu aufstellen. Am vergangenen Sonntag befaßten sie sich mit der "Abwehr", den Lohnnebenkosten und dem Arbeitsmarkt. Heute gehen sie in die Offensive.

Mittelfeld ist spielbestimmend

Im Mittelfeld, bei den Spielern mit den Nummern Vier bis Acht, treten entweder die entscheidenden Ballverluste auf, oder aber es werden die richtigen Spielzüge nach vorne initiiert. Die Abstimmung zwischen Abwehr und Mittelfeld betrifft in erster Linie die sich aus dem Arbeitsmarkt ergebenden Notwendigkeiten des Umbaus des Sozial- und Steuersystems. Dabei müssen auch der demographische Wandel und die Zuwanderung berücksichtigt werden. Nach vorne in den Angriff bewegt sich das Spiel dann über ein modernes Bildungssystem.

Zunächst zur Frage unseres Spielsystems. Es basiert bisher auf einem Umlageverfahren für die Rentenversicherung, das aufgrund der demographischen Entwicklung in der jetzigen Form nicht mehr zu halten sein wird. Eine offensichtliche Alternative, das Kapitaldeckungsverfahren bei privater Vorsorge, ist aber anfällig für Schwankungen an den Börsen und anderen Kapitalmärkten. Sinnvoll ist deshalb ein duales System, das beide Verfahren kombiniert.

Zudem wird man über eine Erhöhung des Renteneintrittsalters nachdenken müssen. Dies wird zwar nicht zu nennenswerten Beitragssatzsenkungen führen, aber zumindest die Spirale ständig steigender Beiträge anhalten. Ein Übergang zum dualen System bestehend aus einer umlagefinanzierten Grundsicherung und einer kapitalgedeckten privaten Höherversicherung ist aber langfristig die einzig machbare Variante. Die Teilnahme an einer sozialen Grundsicherung muß obligatorisch sein und sollte auch keine Einkommensgrenze haben. Die darüber hinausgehende private Höherversicherung kann teilweise als Pflicht und teilweise freiwillig ausgestaltet sein.

Ein zweiter großer Block in unserem reformierten Sozialsystem ist die Kranken- und Pflegeversicherung. Hier verhindert die Unterscheidung von Pflicht- und Freiwilligversicherten eine angemessene Risikoverteilung zwischen den Versicherten, weil gerade überdurchschnittlich viele Personen mit niedrigen Gesundheitsrisiken privat versichert sind. Statt dessen sollte eine allgemeine Versicherungspflicht eingeführt und die Absicherung in verpflichtende Grundleistungen und freiwillige Wahlleistungen aufgeteilt werden. Der Staat legt in diesem privaten Kranken- und Pflegeversicherungssystem nur noch den Leistungskatalog der Mindestversicherung fest. Mit einer allgemeinen individuellen Versicherungspflicht und einer ebensolchen Pflicht der Versicherer, auch jeden versichern zu müssen, gibt es eigentlich keine Notwendigkeit mehr für gesetzliche Krankenversicherungen.

Daneben müssen wir von einkommensabhängigen Beiträgen wegkommen, weil die Versicherungsleistung bei Krankheit kaum von den Vermögensverhältnissen der Patienten abhängt. Ein System von Pauschalbeiträgen wäre besser. Auch wenn dies bedeuten würde, daß für Niedrigverdiener zumindest ein Teil der Pauschale als staatlicher Transfer aus dem Steueraufkommen gezahlt werden müßte. Beim Übergang auf ein solches Modell sollte zudem das Krankheitsrisiko persönlich, pro Mann oder Frau, und nicht länger pro Haushalt abgesichert werden. Eine Reform der Pflegeversicherung wäre dagegen einfacher. Sie ist noch jung genug, um die gesetzliche Versicherung zugunsten einer Privatvorsorge für die Pflege aufzugeben.

Indirektes Spiel im Steuersystem

Damit kämen wir zum neuen Steuersystem, das zur Haupteinnahmequelle der Sozialsysteme werden muß. Die Beitragsausfälle bei der Sozialversicherung machen den Abbau von Steuersubventionen nötig. Allein der Verzicht auf die überlebte Eigenheimzulage könnte elf Milliarden Euro bringen. Geht man weiter und baut auch ökonomisch ungerechtfertigte Vergünstigungen wie die Entfernungspauschale oder die Steuerfreiheit von Zuschlägen für Feiertags- und Nachtarbeit ab, liegt das Einsparpotential sogar in der Größenordnung von ungefähr 38 Milliarden Euro. Diese Zahlen beweisen, daß Veränderungen im Sozialsystem auch ohne Steuererhöhungen machbar sind, wenn man das System als Ganzes betrachtet.

Steuererhöhungen zur Gegenfinanzierung sind erst der zweite Schritt. Wenn die Lohnnebenkosten fallen, kann die Mehrwertsteuer auch erhöht werden. Die Entlastung der Lohnnebenkosten würde mehr Arbeit schaffen, was mehr Beiträge in die Sozialversicherung und ein höheres direktes Steueraufkommen erbringen würde. Am Ende könnte man über eine langfristige Umstellung des gesamten Steuersystems von einer direkten zur indirekten Besteuerung nachdenken, die am Konsum und nicht länger am Einkommen anknüpfen würde.

Ausländer stärken das Team

Unser "dritter Spieler" im Mittelfeld kümmert sich in Reaktion auf den demographischen Wandel um die Gestaltung der Zuwanderung. Denn die demographische Entwicklung ist ganz entscheidend für unser Wirtschafts- und Sozialsystem. Das Finanzierungsproblem der sozialen Sicherungssysteme ist dabei nur eine Folge der immer älter werdenden Bevölkerung. Die andere ist der absehbare gravierende Mangel an Ingenieuren, Fachleuten und Führungskräften aller Art, der langfristig für die deutschen Unternehmen noch explosiver ist als die Alterung der Menschen für die Sozialsysteme.

Und die Fach- und Führungskräfte der kommenden Jahrzehnte sind bereits geboren. Die Gruppe der heute Fünf- bis 25jährigen ist zahlenmäßig um 30 Prozent schwächer als die Gruppe der heute 30- bis 50jährigen - ein gewaltiges Defizit. Außerdem wird der Bedarf an qualifizierten Fachkräften in Zukunft eher noch steigen, so daß die Unternehmen vor einem riesigen Rekrutierungsproblem stehen, das leider ebenso vorhersehbar wie bislang ungelöst ist. Wir werden also ältere Fachkräfte länger als bisher in Unternehmen halten müssen. Es wird auch nötig sein, Frauen mehr als bisher aus der stillen Reserve der Fachkräfte herauszuholen. Junge Menschen müssen früher ins Erwerbsleben integriert werden. Und: Wir brauchen ausländische Fachkräfte. Diese Strategien müssen rechtzeitig in Angriff genommen werden, denn sind ältere Arbeitnehmer erst einmal im Vorruhestand, sind sie nur schwer wieder zu reaktivieren. Frauen, die lange aus dem Beruf ausscheiden, verlieren leicht den Anschluß an Fachwissen und Karriere.

Und um junge Menschen früher ins Erwerbsleben integrieren zu können, sind Änderungen im Bildungssystem notwendig. Die Anwerbung ausländischer Fachkräfte ist außerdem am effizientesten, wenn diese bereits ihre Ausbildung bei uns absolviert haben. Wir können einiges über Bildungsanstrengungen abmildern, aber wir brauchen auch die Zuwanderung von qualifizierten Fachkräften - ebenso wie Nationalmannschaften vom Einsatz von Migranten profitieren. Das beste Beispiel dafür sind Frankreich oder die Niederlande.

Bildung als Zentrale

Die "Zentrale" in unserem Mittelfeld ist die Bildung - die schnelle Umstellung von Abwehr auf Angriff. Bildung ist die klassische Position, die das Spiel mit einem genialen Paß entscheiden kann. Eine reformierte Schulbildung ist dabei zweifellos der Grundbaustein jeder Strategie zur Modernisierung des Bildungswesens. Aber vor allem brauchen wir eine Qualitätsverbesserung der universitären Ausbildung. Nach Studien der OECD belaufen sich die Bildungsausgaben öffentlicher und privater Geldgeber in Deutschland auf nur etwa ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der Durchschnitt in den OECD-Ländern liegt bei 1,8 Prozent. Die USA und Südkorea kommen sogar auf 2,7 Prozent. Dabei ist vor allem der Anteil der privaten Finanzierung in Deutschland verschwindend gering. Angesichts der Lage der öffentlichen Kassen kann eine Qualitätsverbesserung auch über die Finanzierung durch Studiengebühren erreicht werden, die die Anreizwirkungen bei Studierenden und Hochschulen verändern würden.

Die Studierenden brauchen dabei klare Ziele, und die Hochschulen benötigen einen grundlegenden Umbau. Echte Studiengebühren würden eine stärkere Fokussierung der Studenten auf die Fächer bringen, bei denen der Nutzen der Bildung anschließend besonders hoch ist. Gerade hier haben wir Knappheit.

Dies würde dann auch bei den deutschen Universitäten endlich einen Marktmechanismus in Gang setzen, der die heutige Struktur universitärer Haushalte und die staatliche Rationierung von Studienplätzen abschaffen würde. Hochschulbildung ist - im Unterschied zur schulischen "Grundversorgung" - ein privates Gut, das dem einzelnen Studierenden zugeordnet werden kann, weil er mit seiner Investition in Bildung später ein höheres Einkommen erzielt. Damit ist unser Mittelfeld für die Spielweise in der globalen Liga gerüstet.

Offene Spielweise

Bleibt zum Schluß der Angriff mit drei Stürmern, den "Nummern" Neun, Zehn und Elf: offene Märkte, Globalisierung und Forschung und Entwicklung. Offene Märkte sind die Voraussetzung für einen freien Welthandel. Nur wenn es keine Handelsbeschränkungen gibt, können wir Güter und Dienstleistungen erfolgreich absetzen. Deutschland hat jahrzehntelang vom Export profitiert und tut dies immer noch. Offene Märkte sind in der Gegenwart für uns aber eine ganz andere Herausforderung als früher, weil einerseits andere Länder aufgeholt haben und gleichwertige Güter anbieten und sich andererseits die Märkte - vor allem auch die Arbeitsmärkte - vor unserer Haustür in Osteuropa öffnen.

Dieser politisch gewollten Erweiterung der Europäischen Union können wir wirtschaftlich nur begegnen, wenn wir unseren Wissensvorsprung erhalten und am besten noch ausbauen. Denn gegen die sehr viel niedrigeren Arbeitskosten in den Beitrittsländern der Europäischen Union können wir nicht bestehen. Wissen ist unsere Ressource im Transformationsprozeß von der Industrie- zur Informationsgesellschaft. Wenn die Konkurrenz zwischen den Volkswirtschaften immer härter wird, müssen wir unsere Anstrengungen verstärken, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

Nur durch schnelles und präzises Kombinationsspiel werden wir die Chancen nutzen können, die uns die Globalisierung bietet. Abschottungsstrategien sind aussichtslos - es gilt, Spezialisierung und Qualitätsverbesserung zu forcieren. Der Mittelstürmer versenkt den Ball. Das gilt mit Blick auf die Nachbarregionen in Osteuropa vielleicht noch mehr als mit Blick auf den asiatischen Raum. Deutschland verfügt über große globalisierungsbedingte Chancen, denn als Land mit starker Exportorientierung sind wir auf die Erschließung neuer Märkte potentiell sehr gut vorbereitet.

Deshalb besetzt die zweite Außenposition in unserer Mannschaft das Innovationspotential. Innovationen füttern sozusagen den Mittelstürmer im übertragenen Sinne mit den neuen Produkten, mit denen wir den Wissensvorsprung erhalten und ausbauen können. Daß dies hochtechnologische Innovationen sein müssen, ist offensichtlich. Fast alle "alten" Produkte und Leistungen können andere inzwischen billiger produzieren als wir. Aber unsere vergangenen Leistungen sollten unsere Zuversicht stärken, daß wir diese Herausforderung bestehen.

Alle spielen für den Erfolg

Natürlich ist unser Bild der Fußballelf eine Metapher. Sie hilft uns, komplexe wirtschaftliche Zusammenhänge über ein allgemein bekanntes System des Fußballs darzustellen und auf diese Weise zu vermitteln. Alle spielen für den Erfolg. Entscheidend ist das Zusammenspiel. Ein Befreiungsschlag in der Abwehr (Lohnnebenkosten reduzieren) und ein kühner Flankenlauf im Mittelfeld (Mehrwertsteuererhöhung) sind die Basis dafür, um mit flüssigem Kombinationsspiel im Angriff (vor allem Bildungsanstrengungen) den Ball zu versenken. Aber das System von Steuern und Sozialabgaben darf nicht unberührt bleiben. Wir müssen die Spielweise ändern und mehr Eigenverantwortung übernehmen.

Das gilt erst recht in einer globalisierten Wirtschaft, in der die Leistungsdichte zugenommen hat und jeder jeden schlagen kann. Es gibt eben, wie Franz Beckenbauer zu sagen pflegt, keine kleinen Fußballnationen mehr. Deshalb müssen wir ein ambitioniertes System spielen, mit dem wir gewinnen können.


Reprinted with permission.

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