Eine Zeitenwende am Arbeitsmarkt

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April 18, 2005, Aus Politik und Zeitgeschichte

(Gastbeitrag von Klaus F. Zimmermann)
 

Auf der Reformbaustelle Arbeitsmarkt kehrt keine Ruhe ein. Zu Beginn des Jahres 2005 stieg die nach deutschen Standards gemessene Zahl der Arbeitslosen nochmals auf deutlich über 5,2 Millionen Menschen an. Dabei interessiert leider niemanden, dass dieser Anstieg weitgehend durch die im Zuge der Hartz IV-Reform erfolgte Erfassung von arbeitsfähigen Sozialhilfeempfängern in der Arbeitslosenstatistik entstand, also ein messungsbedingtes Scheinprodukt ist. Panikartige Reaktionen in Öffentlichkeit und Politik tragen zu einem verwirrenden Schauspiel bei, das mehr von den Bedürfnissen der Mediengesellschaft geprägt ist, denn von Sachzwängen und Weitblick. Emotionen kochen hoch, und Gesinnung ist offenbar wieder mehr gefragt als kühler Verstand. Die einen fordern mehr und einschneidendere Veränderungen, die anderen eine Rücknahme des Reformprozesses. Deshalb sind Einsichten und Überblick gefragt, um auch in Zukunft die aus arbeitsmarktpolitischer Sicht "richtigen" Entscheidungen zu treffen.

Es stimmt, dass zu spät zu wenig geschehen ist. Seit den siebziger Jahren stieg der Sockel der Arbeitslosigkeit von Konjunkturtief zu Konjunkturtief. Dabei ist es schon als großer Fortschritt zu werten, dass sich dieser Anstieg nach den drei Stagnationsjahren 2001 bis 2004 derzeit nicht weiter fortsetzt. Anders als in den meisten anderen Industrieländern war in Deutschland der Rückgang der Arbeitslosigkeit in einer Phase konjunktureller Erholung jedoch schwächer gewesen als ihr Anstieg in der konjunkturellen Krise zuvor. Mehr noch: Das Arbeitslosigkeitsrisiko ist nicht gleichmäßig verteilt. Es trifft in erster Linie gering Qualifizierte und Ältere. Dabei bedeutet arbeitslos zu werden allzu häufig auch, dauerhaft arbeitslos zu bleiben.

Arbeitslosigkeit entsteht weltweit durch Strukturwandel, in dem durch technologische Veränderungen und durch eine Verstärkung der internationalen Arbeitsteilung gering qualifizierte Arbeitskräfte freigesetzt werden. Auch konjunkturell bedingte Arbeitslosigkeit kann sich strukturell verfestigen: In der Wirtschaftskrise werden eher gering Qualifizierte arbeitslos. Ohne Arbeit nimmt der Wert ihres Humankapitals rasch ab, die Menschen werden demotiviert, ihre Zuversicht schwindet und sie haben Schwierigkeiten, wieder einen regulären Job zu finden.

Die wesentlichen Quellen der Strukturprobleme sind Fehlanreize, die von den Institutionen des Arbeitsmarktes ausgehen. Der Ausbau des Wohlfahrtsstaates hat zu Zeiten hohen Wirtschaftswachstums und geringer Arbeitslosigkeit in gut gemeinter Absicht zahlreiche Schutzrechte geschaffen. Dabei wurde es jedoch häufig versäumt sicherzustellen, dass die am Arbeitsmarkt beteiligten Akteure - Arbeitnehmer, Arbeitslose, Unternehmen, Gewerkschaften und Politik - Entscheidungen im Sinne des Gemeinwohls treffen. So kann die Forderung nach mehr Beschäftigung der Älteren nichts fruchten, wenn der Staat durch Programme zur Frühverrentung die Ausgliederung älterer Arbeitnehmer aus den Betrieben fördert. Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor können nicht entstehen, wenn die soziale Absicherung für gering Qualifizierte finanziell attraktiver als eine legale Erwerbstätigkeit ist. Mäßige Lohnsteigerungen unterbleiben, wenn der Staat bereit ist, die negativen Beschäftigungsfolgen einer überzogenen Lohnpolitik durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen aufzufangen.

Paradox mag erscheinen, dass der Arbeitsmarkt neben der hartnäckigen Arbeitslosigkeit unter gering Qualifizierten durch einen gleichzeitigen Fachkräftemangel gekennzeichnet ist. Dafür zeichnet die mangelhafte Anpassungsfähigkeit der Arbeitsmärkte an die steigenden Qualifikationsanforderungen verantwortlich. Die modernen Arbeitsmärkte und Produktionsabläufe verlangen nach einem intensiven Einsatz von Humankapital, das sich immer mehr als wichtigster Produktionsfaktor etabliert. Als Folge sehen sich die gering Qualifizierten einer weiter schrumpfenden Zahl von Arbeitsplätzen gegenüber, während die hoch Qualifizierten zum knappen Faktor werden. In der sich öffnenden Schere für die Lebenschancen der Bürger liegt die höchste gesellschaftspolitische Brisanz.

Arbeitsmarktpolitik in Deutschland war über viele Jahrzehnte hinweg - getragen von allen politischen Kräften - vor allem Sozialpolitik. Es ging dabei, vor und nach der Vereinigung, um die Absicherung erreichter Lebensstandards oder um die Heranführung an die Standards in Westdeutschland. Bei geringer Arbeitslosigkeit und hohem Wirtschaftswachstum war dies wirtschaftlich unerheblich. Angesichts einer anhaltenden Wachstumskrise und der aufgrund immer größerer Arbeitslosenzahlen ausufernden Finanzbelastungen wurde ein Umdenken unvermeidlich. In der Arbeitsmarktpolitik musste die Aufnahme von Arbeit in den Mittelpunkt aller Überlegungen gestellt werden. Zielgerichtet Arbeit fördern und fordern wurde zur neuen arbeitsmarktpolitischen Leitlinie. Gerecht ist, was dem Einzelnen ermöglicht, einen Job zu finden und anzunehmen. Arbeitsmarktpolitik konzentriert sich seitdem auf die drei Schlüsselthemen: Verstärkung der Anreize zur Arbeitsaufnahme, Verbesserung der Vermittlungsbemühungen und der Schaffung neuer Jobs. Die nötigen Jobs entstehen dabei dauerhaft nur in einer dynamischen, innovativen Gesamtwirtschaft mit einem sich entwickelnden Niedriglohnsektor.

Bereits mit dem Anfang 2002 in Kraft getretenen „Job-AQTIV-Gesetz“ (AQTIV = Aktivieren, Qualifizieren, Trainieren, Investieren, Vermitteln) wurde erstmals die Bereitschaft zur Neuorientierung der Arbeitsmarktpolitik deutlich. Die zentralen Bestandteile des Gesetzes – Verbesserung der Qualität der Arbeitsvermittlung, Erstellung von Bewerberprofilen, aktive Einbindung des Arbeitslosen in den Vermittlungsprozess, Stärkung der beruflichen Weiterbildung für Ungelernte und Ältere – gaben eine vielversprechende Richtung vor. Die überfällige Abwendung von der bloß reagierenden Verwaltung der Arbeitslosigkeit hin zur Vermittlungs-Dienstleistung mit präventivem Charakter sollte damit eingeleitet werden. Das vom Gesetz postulierte Prinzip des „Förderns und Forderns“ sollte Einzug in die aktive Arbeitsmarktpolitik halten. Durch eine frühzeitigere und intensivierte Betreuung und Beratung von Arbeitslosen sollten die Arbeitsämter nicht nur die Chancen auf raschere Vermittlung vergrößern, sondern zugleich auch eine Aktivierung der Arbeitslosen erreichen. Hierzu sollte eine „Eingliederungsvereinbarung“ zwischen Arbeitsamt und dem Arbeitslosen dienen, die im Sinne eines Vertrages die konkreten Angebote des Arbeitsamtes und die Pflichten des Arbeitslosen fixiert und die auch Erwartungen an die Eigeninitiative des Stellensuchenden festschreibt. Darüber hinaus ist die Erarbeitung eines individuellen Profils von Stärken, Schwächen und Arbeitsmarktchancen vorgesehen. Wichtig und richtig ist dabei der Grundsatz, dieses „Profiling“ bereits unmittelbar nach Beginn der Arbeitslosigkeit vorzunehmen, um eine schnellstmögliche Reintegration in den Arbeitsmarkt zu gestatten. Implizit wurde damit eingestanden, dass infolge der bis dahin gültigen Praxis diesbezüglich viel wertvolle Zeit verstrichen ist und es offenkundig neuer gesetzlicher Vorschriften bedurfte, um die Arbeitsverwaltung zum Handeln zu bringen.

Nach der Bundestagswahl 2002 wurden in raschen Schritten weitgehende Vorschläge einer Reformkommission (Hartz-Vorschläge) in Gesetzesform gebracht, die die Gedanken des "Förderns und Forderns" weiter konkretisierten. Zu den ersten Maßnahmen zum Januar 2003 (Hartz I und Hartz II) gehörten die Einrichtung von Personal-Service-Agenturen zur Unterstützung der Arbeitsämter, die eine raschere Vermittlung erzwingen sollten, die Aufwertung der Leiharbeit, die Freisetzung von Restriktionen für geringfügige Beschäftigung, die Förderung von Selbständigkeit aus der Arbeitslosigkeit sowie die Erweiterung von Möglichkeiten zur individuellen Kürzung der Arbeitslosenunterstützung, sofern angebotene Arbeit nicht aufgenommen wird. Hartz III regelte zum Jahresbeginn 2004 den Umbau der Arbeitsverwaltung zur Bundesagentur für Arbeit. Arbeitsvermittlung sollte zum Service am Kunden werden und den Charakter eines bürokratischen Aktes verlieren, die Vermittlung von Arbeit in den Mittelpunkt gestellt werden.

Der weitgehendste und schwierigste Reformschritt vollzog sich mit Hartz IV zum Jahresbeginn 2005, wobei sich die Bezugszeit des Arbeitslosengeldes von bis zu 32 Monaten auf 12 Monate (bei älteren Arbeitnehmern 18 Monate) reduzierte. Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe wurden zum neuen Arbeitslosengeld II zusammengezogen, das in der Regel geringere Leistungen als die alte Arbeitslosenhilfe bietet. Durch die Reform sollte das ineffiziente und teure Nebeneinander bundeseigener Arbeitsagenturen und der kommunalen Sozialämter zugunsten einer intensiveren Beratung der Arbeitssuchenden durch persönliche Fallmanager aufgegeben werden. Arbeitssuchende sollen nun von einem Job-Center, einer Arbeitsgemeinschaft von Kommune und Arbeitsagentur, oder von einem der bundesweit 69 zugelassenen kommunalen Träger eine individuell passende Strategie für die Jobsuche vermittelt bekommen.

Tatsächlich handelt es sich bei diesen Reformschritten, insbesondere aber bei Hartz IV, um nichts weniger als um eine "Revolution in Raten". Die solidarische Unterstützung der Gesellschaft bei Arbeitslosigkeit und sozialer Bedürftigkeit von Arbeitsfähigen wird mit der Verpflichtung verknüpft, für diese Hilfe soweit möglich auch zu arbeiten. Damit wurde Abschied von einer Praxis genommen, die nicht nur immer weniger finanzierbar war, sondern die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern auch zu wenig Anreize für die Übernahme einer Beschäftigung gab. Zuvor wurden Langzeitarbeitslose primär als Opfer gesehen. Ihre Ausgrenzung begann die Gesellschaft zu spalten. Jetzt tragen Gesellschaft und Arbeitslose gemeinsam Verantwortung für die Problemlösung. Wer hier leichtfertig von sozialer Kälte spricht, sollte sich vergegenwärtigen, dass die Unterstützungsleistungen immer primär vom "kleinen Mann" finanziert werden und die aus ihnen folgenden hohen Lohnnebenkosten über den sie verursachenden Arbeitskräfteabbau weiteres soziales Leid herbeiführen.

Damit sind eine große Anzahl von Reformansätzen auf den Weg in die Bewährung geschickt worden. Ganz gleich, ob einzelne Elemente dieses großen Reformpaketes sich als weniger erfolgreich erweisen werden, die Grundkonzeption der neuen Arbeitsmarktpolitik ist unvermeidbar und richtig. Allerdings muss der Kurs von den sie tragenden Institutionen angenommen und konsequent umgesetzt werden. Daran mangelt es noch immer. Es fehlt aber auch noch an dem Verständnis, dass solche weitgehenden Veränderungen auf der operativen Ebene einen erheblich längeren Weg benötigen, als auf der legislativen Ebene. Deshalb kann nicht zu früh mit durchschlagenden Erfolgen beim Abbau der Arbeitslosigkeit gerechnet werden. Das Ausbleiben von Erfolgen kann aber auch nicht zum Anlass genommen werden, schon bald wieder zum Rückzug von diesem Reformkurs zu blasen. Den Instrumenten muss eine Chance gegeben werden, ihre Wirksamkeit zu belegen und zu entfalten. Zum ersten Mal jedenfalls in der Geschichte der deutschen Arbeitsmarktpolitik wird der Maßnahmeneinsatz umfassend durch verschiedene Wissenschaftlergruppen mithilfe moderner Evaluationsmethoden unabhängig untersucht. Auch dies ist ein gewaltiger Fortschritt, der mithelfen wird, die Effektivität der gewählten Instrumente dauerhaft und solide zu ermitteln.

Seit Jahresbeginn werden arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger in der Arbeitslosenstatistik registriert; dies hat zu einer Aufblähung der Zahl der Arbeitslosen geführt. Die dadurch ausgelösten aufgeregten und scheinheiligen Debatten haben den Arbeitsmarktreformen geschadet, da so vorschnell ihre Wirksamkeit in Zweifel gezogen wurde. Die Sozialhilfeempfänger waren auch vor der Statistikbereinigung schon erfasst, nur eben nicht als Arbeitslose. Daneben ist wahrscheinlich, dass ein Gutteil der übernommenen Sozialhilfeempfänger gar nicht arbeitsfähig ist. Im öffentlichen Getöse ging dagegen die Einführung einer anderen neuen Statistik unter: Die Zahl der Arbeitslosen, gemessen nach den Standards des Internationalen Arbeitsamtes, die seit Februar vom Statistischen Bundesamt monatlich vorgelegt wird, liegt danach bei knapp vier Millionen. Dabei fallen Arbeitslose aus der Statistik, die erwerbstätig sind oder dem Arbeitsmarkt gar nicht kurzfristig zur Verfügung stehen. Hinzu kommen Arbeitswillige aus der Stillen Reserve. Es würde dem deutschen Ansehen in der Welt nutzen, wenn wir uns mehr an dieser Abgrenzung orientieren würden.


Reprinted with permission.

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