Zuwanderung - Ein Jahr nach dem Eklat im Bundesrat ist noch immer keine Lösung in Sicht:
Kluge Köpfe braucht die Nation

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March 27, 2003, Rheinischer Merkur

(Gastbeitrag Klaus F. Zimmermann/ Holger Hinte)

Kluge Köpfe braucht die Nation
 

Der Kanzler hat mit seiner Regierungserklärung den Willen zur Generalreform des Arbeitsmarktes deutlich werden lassen. Doch wer A sagt und sich selbst Reformbereitschaft attestiert, muss auch B sagen und endlich den Reformstau in Sachen Zuwanderungspolitik überwinden. Hier sind Regierung und Opposition gleichermaßen in der Pflicht, denn die Konsequenzen einer weiteren Verschleppung des Zuwanderungsgesetzes wären erheblich: Es würde damit ein wichtiger Bestandteil einer langfristigen Strategie zu Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels fehlen und zugleich ein kurzfristig wirksames Instrument zur Stärkung der Gesundungskräfte des Arbeitsmarktes.

Gezielte Auswahl

Zuwanderung ist kein Allheilmittel gegen den näher rückenden Schwund des Erwerbspersonen-Potenzials. Doch sie gehört in ein Gesamtpaket von Maßnahmen, die umso nachdrücklicher ausfallen müssen, je länger der politische Mut zu ihrer Umsetzung noch auf sich warten lässt. In weniger als einem Jahrzehnt werden uns, wenn nicht endlich gehandelt wird, die demografisch bedingten Probleme über den Kopf wachsen. Wir werden dann vor einem akuten Fachkräftemangel bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit von geringer Qualifizierten stehen – mit absehbar eklatanten Konsequenzen für Arbeitsmarkt und soziale Sicherung.

Selbst wenn es gelänge, die Erwerbsbeteiligung von Frauen rasch und deutlich auf skandinavisches Niveau zu steigern und gleichzeitig das Renteneintrittsalter innerhalb kurzer Frist um fünf oder mehr Jahre hinauszuschieben, würde das den demografisch bedingten Ausfall bei den Erwerbspersonen günstigstenfalls um etwa 20 Jahre verzögern. Umfassende familienpolitische Offensiven würden bestenfalls mittelfristig Wirkung zeigen – wenn überhaupt. Der strukturelle Effekt einer verbesserten Bildungspolitik tritt ebenfalls erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung ein. Vor allem aber: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Politik die Kraft aufbringt, solche Schritte recht- und noch dazu gleichzeitig zu unternehmen, ist nicht eben hoch zu veranschlagen. Viel eher ist damit zu rechnen, dass die Arbeitskräftelücke schon im nächsten Jahrzehnt spürbar aufklafft.

In dieser Konstellation kann eine bedarfsorientierte Steuerung der Zuwanderung, die eine gezielte Auswahl von Migranten, flexible Quoten und konkrete Integrationsvereinbarungen beinhaltet, den nötigen „Flankenschutz“ liefern.

Der Wanderungssaldo aus Zu- und Fortzügen beläuft sich im langjährigen Durchschnitt auf rund 200 000 Zuwanderer pro Jahr. Würde er fortgeschrieben, könnte er den demografisch bedingten Schrumpfungsprozess bei den Erwerbspersonen erheblich verlangsamen. Der strukturelle Effekt auf Alter und Qualifikationsniveau des Arbeitskräfteangebots ließe sich noch verbessern, wenn entsprechende Steuerungsmechanismen für den Zuzug von Arbeitskräften etabliert würden.

Bleibt eine Kurskorrektur unserer Zuwanderungspolitik aus, sind auch die kurzfristigen Folgen offensichtlich. Das Fehlen einer ökonomischen Zuwanderungsoption hat den volkswirtschaftlichen Nutzen der Zuwanderung bislang begrenzt, wenngleich die Bilanz dennoch einen positiven gesamtwirtschaftlichen Effekt ausweist. Im Interesse unseres Arbeitsmarktes sollten wir uns nicht länger den Luxus erlauben, die Möglichkeiten zum systematischen Ausbau dieses Effekts durch eine entsprechende Zuwanderungspolitik ungenutzt zu lassen.

Ein immer geringerer Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung steht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Unsere bisherige kurzsichtige Migrationspolitik hat dazu geführt, dass sich das Qualifikationsniveau von Zuwanderern aus Drittstaaten im Durchschnitt deutlich unter dem Niveau der einheimischen Bevölkerung bewegt. Die alarmierend hohe Arbeitslosigkeit von Ausländern in Deutschland darf uns deshalb nicht überraschen. Aber sie ist kein Beleg für die Abwegigkeit einer geregelten Arbeitsmigration, sondern Folge einer zu lange zu ungeregelt verlaufenen Zuwanderung und Integration.

Unabhängig davon, dass bei Bildung und Ausbildung der Immigranten(-Kinder) Defizite vorhanden sind und wir viel zu wenig Wert auf einen raschen Spracherwerb gelegt haben, hätte die frühzeitige Einführung eines Zuwanderungsgesetzes mit klaren Zulassungskriterien für Arbeitsmigranten längst schon einen Beitrag zur Verringerung der Arbeitslosigkeit von Ausländern (und Deutschen) leisten können.

Auch die anstehende EU-Osterweiterung ruft förmlich nach einem Zuwanderungsgesetz. Die Ost-West-Migration, mit der in den ersten Jahren nach Gewährung der Freizügigkeit zu rechnen ist, wird zwar den demografischen Schwund bei weitem nicht ausgleichen; sie macht aber ökonomisch steuernde Regelungen für die Einreise aus anderen Ländern nur noch notwendiger.

Drei-Säulen-Modell

Angesichts der prekären Arbeitsmarktsituation von geringer Qualifizierten ist es ein Gebot verantwortlicher Politik, die Zuwanderung in dieses Segment möglichst rasch und weitgehend zu unterbinden und die Immigration von höher Qualifizierten an ihre Stelle treten zu lassen. Das eine reduziert den Druck auf einheimische Arbeitskräfte, das andere schafft neue Beschäfti-gungschancen.

Eine moderne deutsche Zuwanderungspolitik benötigt drei neue Säulen: ein an den demografischen Trends orientiertes Auswahl- und Quotierungsverfahren zur Einreise von Immigranten, deren Eingliederung in Arbeitsmarkt und Gesellschaft aufgrund ihrer Qualifikation und Sprachkenntnisse als sicher gelten kann (Punktesystem); ein unbürokratisches Zuwanderungsangebot für ausländische Spitzenkräfte, Unternehmer und Investoren; sowie ein gesondertes Verfahren zur Deckung des kurzfristigen, vorübergehend auftretenden Arbeitskräftebedarfs.

Während ein Punktesystem die Regeln für eine dauerhafte Immigration vorgibt, lässt sich der temporäre Bedarf nach dem Prinzip „Bezahlung für die Arbeitserlaubnis von Zuwanderern“ in Form einer Versteigerung zeitlich befristeter Einreisegenehmigungen an interessierte Unternehmen abdecken. Ein Unternehmen wird nur dann für ein solches Zertifikat zu zahlen bereit sein, wenn die kostengünstigere Alternative in Form der Beschäftigung inländischer Arbeitskräfte mangels Bewerbern nicht zur Verfügung steht und der zu erwartende Gewinn aus der Besetzung des Arbeitsplatzes per Zuwanderungszertifikat die Kosten der Auktion und der Personalsuche im Ausland übersteigt. Dieser Mechanismus liefert zugleich wichtige Informationen für unsere Bildungspolitik.

Deutschland muss sich auf einen schärfer werdenden internationalen Wettbewerb um das Humankapital einrichten und ist dazu bislang schlecht aufgestellt. Es wäre naiv anzunehmen, die „besten Köpfe“ im Hochqualifikationsbereich oder auf Facharbeiterebene würden in jedem Fall Ja zu Deutschland sagen, wenn wir sie denn nur haben wollten. Der bislang mäßige Erfolg der Greencard-Aktion zeigt, wo die Attraktivitätsprobleme liegen. Wir werden um dieses Humankapital regelrecht werben müssen. Ein ökonomisch orientiertes Zuwanderungsgesetz muss beides sicherstellen: eine bedarfsorientierte Auswahl von Zuwanderern und die nötige Attraktivität Deutschlands als Zielland der Besten.

Virtuelle Migration

Wenn ein überzeugendes Zuwanderungsangebot für gesuchte Fachkräfte fehlt, verliert Deutschland gleich doppelt an Boden. Denn dann wächst auch die Gefahr der „virtuellen Migration“: Arbeitsplätze können heute ohne weiteres dorthin exportiert werden, wo der benötigte Experte lebt. Doch damit geht Kaufkraft verloren, Tarif- und Steuerrecht werden ausgehebelt, und obendrein fließt auch Kapital für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen ins Ausland ab.

Wir brauchen deshalb dringend einen zuwanderungspolitischen Quantensprung, der hierzulande Arbeit sichert und neu schafft. Die Art und Weise, in der die Zuwanderung nach Deutschland künftig gestaltet wird, ist auch ein Gradmesser für die Ernsthaftigkeit der Reformbereitschaft auf dem Arbeitsmarkt.


Reprinted with permission.

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