Arbeitslosigkeit contra Fachkräftemangel: Auf der Strecke bleiben die gering Qualifizierten. Was läuft schief im Ausbildungssystem?
Paradoxe Welten am deutschen Arbeitsmarkt: Die sogenannten "Green-Card"-Diskussion soll unverhohlen Fachkräfte aus dem IT-Bereich
nach Deutschland importieren. Gleichzeitig sind über 4 Millionen Menschen arbeitslos, auch in der Rubrik Informationstechnologie. Ein
scheinbarer Widerspruch nur, denn tatsächlich sind die Profile am Arbeitsmarkt höchst verschieden. Unverkennbar sind bestimmte
Fachkräfte rar, während an anderer Stelle die Arbeitslosigkeit dauerhaft hoch ist. Gefragt ist eine überzeugende Antwort auf beide
Entwicklungen.
Zu oft läuft die Ausbildung am Bedarf vorbei. Nach wie vor wird in zukunftslosen Branchen, beispielsweise im Bergbau, quasi für die
Arbeitslosigkeit ausgebildet. Für manche Zukunftsjobs gibt es dagegen noch nicht einmal klare Berufsbilder. Unser Ausbildungssystem ist
zu träge, erkennt den Bedarf zu spät. Die Reaktion der Institutionen kann erst mittelfristig Wirkung zeigen, aber nicht ad hoc Lücken
füllen. Erfahrungsgemäß reagieren jene Menschen, die ausgebildet werden sollen erst, wenn die Profitabilität der Neuerung offensichtlich
ist. Dann kann es aber bereits zu spät sein.
Inzwischen kann unser System mit der schnellen Veränderung von Berufen und Arbeitsformen nicht mehr Schritt halten. Wirtschaft,
Arbeitsämter, Verbände und Institutionen wie das Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung müssen sich zusammensetzen, ihren
Informationsaustausch verbessern und ein Frühwarnsystem schaffen. Es ist bezeichnend, daß in Deutschland derzeit der tatsächliche
Bedarf des Arbeitsmarktes nur sehr schwer zu beziffern ist.
Doch Vorsicht vor einer gefährlichen Falle: Schon heute wird oft zu speziell ausgebildet, viele Betriebe erwarten Mitarbeiter, die exklusiv für
sie geformt wurden. Doch die Green-Card-Debatte darf nicht dazu führen, die Spezialisierung noch weiter voranzutreiben und berufliche
Immobilität zu erzeugen. In der dynamischen Informationsgesellschaft veraltet Spezialwissen immer rascher. Der Spezialist wird schnell
zum dequalifizierten Outsider.
Das heißt zum einen, daß der berufsbegleitenden Weiterbildung ein noch viel größeres Gewicht zukommen muß, als dies gegenwärtig
der Fall ist. Zweitens müssen Umschulungsmaßnahmen Fehlqualifizierten neue Chancen eröffnen. Zum dritten muß die Ausbildung wieder
mehr Schlüsselqualifikationen vermitteln, die ein Fundament für einen "Aufbaukurs Spezialwissen" bilden. Dazu gehören neben sozialen
und Sprachkompetenzen vor allem Entscheidungs- und Teamfähigkeit sowie strategisches Denken.
Viertens führt kein Weg daran vorbei, diesen mittelfristig wirksamen Maßnahmen eine intelligente, bedarfsangepaßte Zuwanderung von
Arbeitskräften an die Seite zu stellen, um akute Lücken zu schließen, die ansonsten die gesamte Volkswirtschaft benachteiligen würden.
Die IT-Branche zeigt, welche Bedeutung hochqualifiziertes Personal auch für die Chnacen gering qualifizierter Arbeitsuchender hat: Im
Umfeld eines jeden IT-Arbeitsplatzes entsteht komplementärer Arbeitskräftebedarf. Die Produktivität des Unternehmens und der gesamte
Arbeitsmarkt kann dadurch nur gewinnen.
Die Wirtschaft muß sich den Vorwurf gefallen lassen, langfristige Perspektiven verkannt zu haben. Es wurde zu wenig ausgebildet, es
wurden auch falsche Schwerpunkte gesetzt. Das gilt nicht nur für den High-Tech-Sektor, sondern auch für den Maschinenbau oder den
Pflegebereich. Und dort, wo vorausschauend ausgebildet wurde - etwa in der Biotechnologie - wurde zu wenig für adäquate
Beschäftigungsmöglichkeiten getan, so daß gefragte Fachleute in die USA abwanderten.
Keine Frage: der Ausbildungsmarkt braucht neue Dynamik. Und die wird auch durch äußere Einflüsse gesteuert. Deutschland muß wieder
zum attraktiven Studienstandort werden. Dazu müssen wir um gute Studenten gerade aus Asien und Osteuropa werben. Und dazu gehört
ein überzeugendes Marketing für den Standort Deutschland, Anreize für die Universitäten, sowie die Einführung von Englisch als
Unterrichtssprache. So werden auch die deutschen Studenten früh an den internationalen Wettbewerb gewöhnt.
Im Anschluß müssen aber auch die Rahmenbedingungen stimmen, damit mehr Absolventen in Deutschland bleiben und nicht via
bürokratischen Hürdenlauf einer "Greencard" später wieder hereingeholt werden müssen.
Anderswo sind die Ausbildungszeiten deutlich kürzer. Das duale System darf sich nicht auf verstaubten Lorbeeren ausruhen, sondern
muß flexibler werden. Dazu müssen wir uns auch anstrengen, Fehlqualifizierte für eine Beschäftigung in Zukunftsbranchen umzuschulen.
Institutionen wie die Berufsakademien mit ihrer Verzahnung von Praxis und Weiterbildung haben Modellcharakter. Die Fachhochschulen
könnten die Aufgabe übernehmen, die Menschen gemeinsam mit der Wirtschaft über das Berufsleben hinweg weiterzubilden.
Wie schnell hier allerdings die Grenzen erreicht sind, zeigt die Tatsache, daß das Gros der Arbeitslosen zu den Geringqualifzierten und
Ungelernten gehört. Sie drohen im Informationszeitalter auf der Strecke zu bleiben. Es reicht deshalb nicht aus, die Ausbildung zu
reformieren. Nicht jeder ist unbegrenzt lernfähig. Hinzutreten muß eine Beschäftigungsoffensive für Geringqualifizierte sein. Andernfalls
droht eine krasse Schere: Hüben ein mehr oder minder großer Fachkräftemangel und annähernde Vollbeschäftigung von Qualifizierten,
drüben eine eklatant hohe und dauerhafte Sockelarbeitslosigkeit von Ungelernten.
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