Bonn. Um die sozialen Sicherungssysteme
zu gewährleisten, "brauchen wir zwischen
400 000 und 600 000 Zuwanderer pro
Jahr". Das sagte Klaus F. Zimmermann,
Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit
in Bonn.
Deutschlands Bevölkerung schrumpft. Brauchen
wir Zuwanderung allein, um einen
Kollaps der Sozialkassen zu verhindern?
Auf lange Sicht kann man als Bevölkerung
sehr viel kleiner werden. Nur: Die Übergänge
sind sehr schmerzhaft. Unsere sozialen
Sicherungssysteme können so, wie sie
jetzt aufgestellt sind, nicht gehalten werden
ohne mehr Zuwanderung. Wir brauchen sicherlich
weit mehr Zuwanderer als wir derzeit
haben. Wir gehen von 400 000 bis 600
000 Zuwanderern pro Jahr aus.
Der Vorwurf lautet, Zuwanderer nehmen
den Deutschen die Arbeit weg.
Die meisten Zuwanderer machen etwas anderes
als wir selber tun können. Sie bringen
neue Fähigkeiten ein. Die Erfahrungen belegen:
Gerade Zuwanderer schaffen sozusagen
Arbeitsplätze, indem sie sicherstellen,
dass mehr Menschen in der Produktion gebraucht
werden.
Wie das?
Wer als Zuwanderer einen Betrieb gründet,
braucht Mitarbeiter. In Zukunft fehlen uns
auch immer mehr Fachkräfte. Wenn diese
nicht da sind, dann bleiben auch viele Geringqualifizierte
arbeitslos.
Jetzt malen Sie das Schreckgespenst Fachkräftemangel
an die Wand. Dabei besagt
eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt
und Berufsforschung, dass es erst 2030 einen
flächendeckenden Fachkräftemangel geben
wird, und zwar in technischen Berufen.
Es wird wahrscheinlich immer so sein, dass
es Branchen gibt, die gerade keine Zuwanderung
brauchen. Aber insge- samt benötigen
wir in sehr vielen - und immer mehr
Branchen - Fachkräfte, also Zuwanderung.
Unsere Wirtschaft bekommt doch schon
heute gar nicht überall die Fachkräfte, die
sie benötigt. Da morgen ein Großteil der
Länder Fachkräfte suchen wird, müssen wir
uns rechtzeitig auf die Knappheiten vorbereiten,
die vielleicht erst in einigen Jahren in
großer Dramatik eintreten werden.
Wie soll das geregelt werden?
Momentan gibt es Forderungen nach einem Zuwanderungsgesetz,
während Bundesinnenminister
Thomas de Maizière (CDU) eher für ein Zuwanderungsmarketing
plädiert.
Gegen Marketing ist nichts einzuwenden.
Da haben wir eine Menge nachzuholen,
weil wir bisher so getan haben, als hätten
wir keine Zuwanderung nötig und wollten
auch keine. Deswegen kommen viele Menschen
nicht hierher, obwohl wir für qualifizierte
Zuwanderer inzwischen die Zugänge
dafür haben. Aber zum Marketing gehört
auch ein Gesetz, das von den Menschen als
grundsätzliche Einladung verstanden wird
und in dem sie erfahren, unter welchen Bedingungen
sie ins Land kommen können.
Wir haben sehr viele und für den Außenstehenden
verwirrende Einzelregelungen.
Wie sollte die Zuwanderung bei uns organisiert
werden?
Die Menschen wollen nicht nur kurzfristig
zum Arbeiten kommen, sondern sie wollen
wissen, unter welchen Bedingungen sie
dauerhaft bleiben können. Das geht hin bis
zur Frage der Staatsbürgerschaft. Zuwanderungsländer
wie Kanada oder Australien regeln
das über ein Punktesystem. Anhand
dessen kann man sich genau ausrechnen,
welche Voraussetzungen zu erfüllen sind,
um dauerhaft im Land zu bleiben.
Also wäre ein Punktesystem angebracht?
Eindeutig. Wir brauchen es, um zu sagen,
dass wir offen sind für Zuwanderung, wenn
in einigen Jahren der Wettbewerb um Fachkräfte
weltweit stärker wird. Zugleich werden
über das Punktesystem die Bedingungen
geregelt, auch um Bewerber abzuweisen,
die wir nicht brauchen.
Ist auch eine Erleichterung der Anerkennung
ausländischer Abschlüsse nötig?
Ganz klar. Wir legen zu stark Wert auf Formalien.
Ich bin davon überzeugt, dass Berufserfahrung
immer wichtiger wird als allgemeine
Abschlüsse.
Was ist für eine vernünftige Integration
noch erforderlich?
Wir brauchen eine Politik, die von vornherein
auf das Bleiben abzielt. Daher ist die gesellschaftliche
Integration wichtig. Das
fängt bei den Sprachkenntnissen an und
setzt sich im sozialen Engagement in Vereinen
und in den Parteien fort. Da kann ein
System, das für Integrationsleistungen
Punkte vergibt, Anreize schaffen. Von der
Idee her kann das beispielsweise bedeuten:
Wer bereit ist, sich in weniger konzentrierten
Regionen anzusiedeln und zu engagieren,
erhält dafür Punkte, steigert seine Zuwanderungschancen.
Also wäre ein transparentes Punktesystem
ein Mittel gegen Fremdenfeindlichkeit?
Fremdenfeindlichkeit entsteht zumeist
durch Unwissen und Unkenntnis über die
Leistung der Menschen für die Gesellschaft.
Deshalb ist Fremdenfeindlichkeit oftmals
dort hoch, wo es nicht so viele
Fremde gibt. Ein Punktesystem lässt für jedermann
transparent erkennen, wer kommen
darf und was wir von diesen Menschen
einfordern. Ich denke, das hilft, Widerstände
abzubauen.
Interview: Ulrich Milde
Klaus F. Zimmermann (62) ist seit 1998
Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit
(IZA) in Bonn. 1300 Ökonomen aus
45 Ländern sind Teil des weltweiten IZAForschernetzwerks.
Bekannt wurde der
Volkswirtschaftsprofessor als Präsident des
Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung
(DIW). Der gebürtige Baden-Württemberger
stand elf Jahre bis Anfang 2011
an der Spitze des Berliner Instituts.
|