Auch zehn Jahre nach der Wiedervereinigung liegt in der Fehldeutung der Rolle der Lohnkosten für die Misere im Osten der Kern eines
fatalen wirtschaftspolitischen Missverständnisses. Das macht eine schlichte Rechnung klar, nach der unter Vernachlässigung aller
strukturellen Probleme und unter der Annahme funktionierender Arbeitsmärkte die Arbeitslosigkeit durch eine globale Lohnsenkung
abgebaut wird. Die effektive Arbeitslosenquote, die die registrierte und versteckte Arbeitslosigkeit erfasst, ist in Ostdeutschland heute
immer noch bei über 30%. Daraus folgt die rechnerische Notwendigkeit einer Lohnsenkung um weit über 80% - eine reichlich gewagte
Vorstellung, die zudem nur in Bilderbuchökonomien denkbar wäre. Darüber hinaus ist der ostdeutsche Arbeitsmarkt viel kreativer und flexibler als sein Ruf. Das tatsächliche Ausmaß der vielfach
problematisierten zu raschen Lohnangleichung von Ost- an Westniveau wird überzeichnet. Die Effektivlöhne liegen im Westen deutlich
über den Tariflöhnen, dagegen gelten sie im Osten häufig gar nicht oder werden einfach ignoriert. Die meisten Firmen im Osten nehmen
gar nicht an Tarifverhandlungen teil. Lohnzusatzleistungen wie Urlaubs- oder Weihnachtsgeld sind überall spürbar niedriger als im Westen.
Eine besondere Rolle in der Diskussion spielt die angebliche Produktivitätslücke zum Westen. Sie signalisiert zunächst zu Unrecht
mangelnde Leistungsfähigkeit der Menschen, sondern sie ist Ausdruck von unproduktiven Produktionsstrukturen. Gemessen am
Westniveau haben sich die effektiven Löhne der Ostdeutschen aber keineswegs so weit von der Produktivität entfernt, wie gerne unterstellt
wird. Pauschale Produktivitätsvergleiche sind zudem trügerisch: Sie überzeugen nur in Sektoren mit überregional gehandelten Gütern,
nicht aber dort, wo die Wirtschaft vom öffentlichen Sektor oder von der lokalen Kaufkraft abhängt.
Eine Fortsetzung des Aufbauprogramms Ostdeutschland muss anderen Zielsetzungen folgen: Die Wirtschaft hier wird immer noch durch
eine Überbeschäftigung im öffentlichen Sektor, einen unterentwickelten Dienstleistungsbereich und eine fatal mangelhafte
Exportorientierung gekennzeichnet. Die durch den Umbruch gegebene Chance zur Entwicklung einer modernen Dienstleistungsökonomie,
die den Herausforderungen der Informationsgesellschaft genügt, wurde bisher nicht ausreichend genutzt. Die Osterweiterung der EU bietet
eine aussichtsreiche Perspektive, die Exportschwäche bald abzubauen. Dazu ist es aber essentiell, die vorhandenen Defizite bei der
öffentlichen Infrastruktur auszugleichen.
|