Der Kanzler
hat mit seiner Regierungserklärung den Willen zur Generalreform
des Arbeitsmarktes deutlich werden lassen. Doch wer A sagt und
sich selbst Reformbereitschaft attestiert, muss auch B sagen
und endlich den Reformstau in Sachen Zuwanderungspolitik überwinden.
Hier sind Regierung und Opposition gleichermaßen in der Pflicht,
denn die Konsequenzen einer weiteren Verschleppung des Zuwanderungsgesetzes
wären erheblich: Es würde damit ein wichtiger Bestandteil einer
langfristigen Strategie zu Bewältigung der Folgen des demografischen
Wandels fehlen und zugleich ein kurzfristig wirksames Instrument
zur Stärkung der Gesundungskräfte des Arbeitsmarktes.
Gezielte Auswahl
Zuwanderung ist kein Allheilmittel gegen den näher rückenden
Schwund des Erwerbspersonen-Potenzials. Doch sie gehört in
ein Gesamtpaket von Maßnahmen, die umso nachdrücklicher ausfallen
müssen, je länger der politische Mut zu ihrer Umsetzung noch
auf sich warten lässt. In weniger als einem Jahrzehnt werden
uns, wenn nicht endlich gehandelt wird, die demografisch bedingten
Probleme über den Kopf wachsen. Wir werden dann vor einem
akuten Fachkräftemangel bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit
von geringer Qualifizierten stehen – mit absehbar eklatanten
Konsequenzen für Arbeitsmarkt und soziale Sicherung.
Selbst wenn es gelänge, die Erwerbsbeteiligung von Frauen
rasch und deutlich auf skandinavisches Niveau zu steigern
und gleichzeitig das Renteneintrittsalter innerhalb kurzer
Frist um fünf oder mehr Jahre hinauszuschieben, würde das
den demografisch bedingten Ausfall bei den Erwerbspersonen
günstigstenfalls um etwa 20 Jahre verzögern. Umfassende familienpolitische
Offensiven würden bestenfalls mittelfristig Wirkung zeigen
– wenn überhaupt. Der strukturelle Effekt einer verbesserten
Bildungspolitik tritt ebenfalls erst mit erheblicher zeitlicher
Verzögerung ein. Vor allem aber: Die Wahrscheinlichkeit, dass
die Politik die Kraft aufbringt, solche Schritte recht- und
noch dazu gleichzeitig zu unternehmen, ist nicht eben hoch
zu veranschlagen. Viel eher ist damit zu rechnen, dass die
Arbeitskräftelücke schon im nächsten Jahrzehnt spürbar aufklafft.
In dieser Konstellation kann eine bedarfsorientierte Steuerung
der Zuwanderung, die eine gezielte Auswahl von Migranten,
flexible Quoten und konkrete Integrationsvereinbarungen beinhaltet,
den nötigen „Flankenschutz“ liefern.
Der Wanderungssaldo aus Zu- und Fortzügen beläuft sich im
langjährigen Durchschnitt auf rund 200 000 Zuwanderer pro
Jahr. Würde er fortgeschrieben, könnte er den demografisch
bedingten Schrumpfungsprozess bei den Erwerbspersonen erheblich
verlangsamen. Der strukturelle Effekt auf Alter und Qualifikationsniveau
des Arbeitskräfteangebots ließe sich noch verbessern, wenn
entsprechende Steuerungsmechanismen für den Zuzug von Arbeitskräften
etabliert würden.
Bleibt eine Kurskorrektur unserer Zuwanderungspolitik aus,
sind auch die kurzfristigen Folgen offensichtlich. Das Fehlen
einer ökonomischen Zuwanderungsoption hat den volkswirtschaftlichen
Nutzen der Zuwanderung bislang begrenzt, wenngleich die Bilanz
dennoch einen positiven gesamtwirtschaftlichen Effekt ausweist.
Im Interesse unseres Arbeitsmarktes sollten wir uns nicht
länger den Luxus erlauben, die Möglichkeiten zum systematischen
Ausbau dieses Effekts durch eine entsprechende Zuwanderungspolitik
ungenutzt zu lassen.
Ein immer geringerer Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung
steht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Unsere bisherige kurzsichtige
Migrationspolitik hat dazu geführt, dass sich das Qualifikationsniveau
von Zuwanderern aus Drittstaaten im Durchschnitt deutlich
unter dem Niveau der einheimischen Bevölkerung bewegt. Die
alarmierend hohe Arbeitslosigkeit von Ausländern in Deutschland
darf uns deshalb nicht überraschen. Aber sie ist kein Beleg
für die Abwegigkeit einer geregelten Arbeitsmigration, sondern
Folge einer zu lange zu ungeregelt verlaufenen Zuwanderung
und Integration.
Unabhängig davon, dass bei Bildung und Ausbildung der Immigranten(-Kinder)
Defizite vorhanden sind und wir viel zu wenig Wert auf einen
raschen Spracherwerb gelegt haben, hätte die frühzeitige Einführung
eines Zuwanderungsgesetzes mit klaren Zulassungskriterien
für Arbeitsmigranten längst schon einen Beitrag zur Verringerung
der Arbeitslosigkeit von Ausländern (und Deutschen) leisten
können.
Auch die anstehende EU-Osterweiterung ruft förmlich nach
einem Zuwanderungsgesetz. Die Ost-West-Migration, mit der
in den ersten Jahren nach Gewährung der Freizügigkeit zu rechnen
ist, wird zwar den demografischen Schwund bei weitem nicht
ausgleichen; sie macht aber ökonomisch steuernde Regelungen
für die Einreise aus anderen Ländern nur noch notwendiger.
Drei-Säulen-Modell
Angesichts der prekären Arbeitsmarktsituation von geringer
Qualifizierten ist es ein Gebot verantwortlicher Politik,
die Zuwanderung in dieses Segment möglichst rasch und weitgehend
zu unterbinden und die Immigration von höher Qualifizierten
an ihre Stelle treten zu lassen. Das eine reduziert den Druck
auf einheimische Arbeitskräfte, das andere schafft neue Beschäfti-gungschancen.
Eine moderne deutsche Zuwanderungspolitik benötigt drei neue
Säulen: ein an den demografischen Trends orientiertes Auswahl-
und Quotierungsverfahren zur Einreise von Immigranten, deren
Eingliederung in Arbeitsmarkt und Gesellschaft aufgrund ihrer
Qualifikation und Sprachkenntnisse als sicher gelten kann
(Punktesystem); ein unbürokratisches Zuwanderungsangebot für
ausländische Spitzenkräfte, Unternehmer und Investoren; sowie
ein gesondertes Verfahren zur Deckung des kurzfristigen, vorübergehend
auftretenden Arbeitskräftebedarfs.
Während ein Punktesystem die Regeln für eine dauerhafte Immigration
vorgibt, lässt sich der temporäre Bedarf nach dem Prinzip
„Bezahlung für die Arbeitserlaubnis von Zuwanderern“ in Form
einer Versteigerung zeitlich befristeter Einreisegenehmigungen
an interessierte Unternehmen abdecken. Ein Unternehmen wird
nur dann für ein solches Zertifikat zu zahlen bereit sein,
wenn die kostengünstigere Alternative in Form der Beschäftigung
inländischer Arbeitskräfte mangels Bewerbern nicht zur Verfügung
steht und der zu erwartende Gewinn aus der Besetzung des Arbeitsplatzes
per Zuwanderungszertifikat die Kosten der Auktion und der
Personalsuche im Ausland übersteigt. Dieser Mechanismus liefert
zugleich wichtige Informationen für unsere Bildungspolitik.
Deutschland muss sich auf einen schärfer werdenden internationalen
Wettbewerb um das Humankapital einrichten und ist dazu bislang
schlecht aufgestellt. Es wäre naiv anzunehmen, die „besten
Köpfe“ im Hochqualifikationsbereich oder auf Facharbeiterebene
würden in jedem Fall Ja zu Deutschland sagen, wenn wir sie
denn nur haben wollten. Der bislang mäßige Erfolg der Greencard-Aktion
zeigt, wo die Attraktivitätsprobleme liegen. Wir werden um
dieses Humankapital regelrecht werben müssen. Ein ökonomisch
orientiertes Zuwanderungsgesetz muss beides sicherstellen:
eine bedarfsorientierte Auswahl von Zuwanderern und die nötige
Attraktivität Deutschlands als Zielland der Besten.
Virtuelle Migration
Wenn ein überzeugendes Zuwanderungsangebot für gesuchte Fachkräfte
fehlt, verliert Deutschland gleich doppelt an Boden. Denn
dann wächst auch die Gefahr der „virtuellen Migration“: Arbeitsplätze
können heute ohne weiteres dorthin exportiert werden, wo der
benötigte Experte lebt. Doch damit geht Kaufkraft verloren,
Tarif- und Steuerrecht werden ausgehebelt, und obendrein fließt
auch Kapital für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen
ins Ausland ab.
Wir brauchen deshalb dringend einen zuwanderungspolitischen
Quantensprung, der hierzulande Arbeit sichert und neu schafft.
Die Art und Weise, in der die Zuwanderung nach Deutschland
künftig gestaltet wird, ist auch ein Gradmesser für die Ernsthaftigkeit
der Reformbereitschaft auf dem Arbeitsmarkt.
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