Im vergangenen Jahr war das Wachstum der Weltwirtschaft so kräftig wie seit langem nicht mehr. In Deutschland war der Boom
weitgehend durch die günstige Weltkonjunktur und den schwachen Euro getragen. Nun aber nehmen die Unsicherheiten über die weitere
Entwicklung der Weltwirtschaft in beunruhigender Weise zu. Sorgen bereitet vor allem die Konjunktur in den USA. Eine harte Landung der
amerikanischen Wirtschaft ist immer noch möglich. Der Absturz des amerikanischen Wachstums von nahe sechs Prozent Anfang 2000 auf ein Nullniveau, das derzeit erwartet wird, ist
dramatisch. Dazu haben der Ölpreisschock und die sich allmählich entfaltenden Wirkungen der restriktiven Geldpolitik der vergangenen
anderthalb Jahre beigetragen. Dadurch hat sich das Wachstumstempo in den Industrieländern in der zweiten Jahreshälfte bereits merklich
verringert. Das wird sich fortsetzen und nicht ohne Folgen auch für die deutsche Wirtschaft bleiben.
Die Europäische Zentralbank (EZB) hatte sich dem restriktiven Kurs der amerikanischen Notenbank unbegründet früh angeschlossen und
ihren Hauptrefinanzierungssatz seit Herbst 1999 um insgesamt 2,25 Prozentpunkte erhöht. Sie hat sich dabei zum Sklaven einer
neurotischen Diskussion um den Verfall des Außenwertes des Euros machen lassen. Der Propaganda der Euro-Gegner, die darin
unberechtigerweise ein Indiz für einen Mißerfolg der europäischen Währung sehen wollten, hätte nicht nachgegeben werden dürfen.
Denn die Inflationsbefürchtungen, die einzig und allein ein starkes Handeln rechtfertigen würden, sind schwach begründet: Die
Geldvorsorge ist zwar reichlich. Ob die Geldmange aber wirklich als ein angemessener Indikator für die Inflationsentwicklung gelten kann,
ist umstritten. Die gemessene Inflationsrate fällt jedenfalls. Die Energiepreissteigerungen im Jahr 2000 waren temporär und führten auch
nicht zu Nachschlagforderungen der Gewerkschaften. Die Lohnkosten in Europa, die die wichtigste interne Inflationsquelle darstellen,
haben sich seit einiger Zeit stabilitätskonform entwickelt.
Auch aus den knapper werdenden Angeboten in einigen Segmenten des Arbeitsmarktes kann angesichts der anhaltend hohen
Arbeitslosigkeit nicht auf Inflationsdruck geschlossen werden. Die Inflationsprognosen und die gemessenen Inflationserwartungen der
nächsten Jahre, auf die es wegen der nur langfristigen Wirkungen der Geldpolitik ankommt, liefern ebenfalls keine nachhaltige
Unterstützung für Inflationsangst.
Die US-Notenbank hat jetzt angesichts der geschilderten Entwicklung den Leitzinssatz zum zweiten Mal um einen halben Prozentpunkt
gesenkt. Es ist nicht unbegründet zu vermuten, daß sie dies weiter fortsetzen wird. Die EZB hätte ihr diesmal folgen sollen. Sie hat es
nicht getan, um nicht ins Schlepptau der Amerikaner zu geraten. Die gleichzeitig vorgetragene Mahnung an die Tarifvertragsparteien, ihre
moderate Lohnpolitik fortzusetzen, klingt scheinheilig. Nicht umsonst fürchten die Gewerkschaften, mit ihrem Stabilitätsbeitrag allein zu
bleiben, und haben bereits eine Revision angedroht. Eine Leitzinssenkung der EZB in der Größenordnung von einem halben Prozentpunkt
wäre ein klares Signal zur Verstetigung der Lohnpolitik, was letztlich auch die Inflation begrenzen würde.
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