Freizügigkeit für Arbeitnehmer - am besten sofort!

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15. Mai 2001, Süddeutsche Zeitung

(Gastbeitrag Klaus F. Zimmermann)

Übergangsfristen würden dem Arbeitsmarkt nur schaden / Deutschland hat in Sachen Migration Standortvorteile
 

Die geplante Erweiterung der Europäischen Union weckt die Furcht vor einem starken Anstieg der Zuwanderung nach Westeuropa und insbesondere nach Deutschland - mit schädlichen Konsequenzen für Arbeitsmarkt und Sozialsystem. Deshalb werden Übergangsfristen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit von fünf bis sieben Jahren gefordert. Ist dies der richtige Weg? Wissenschaftliche Prognosen belegen übereinstimmend, dass die Zuwanderung aus Osteuropa beherrschbar ist. Auch auf Grund der historischen Erfahrung ist eine Völkerwanderung unwahrscheinlich. Vor allem höher qualifizierte Menschen werden aus Osteuropa kommen. Als klassische Arbeitsmigraten werden sie überwiegend nicht auf Dauer bei uns bleiben wollen, es wird vielmehr neben der Zu- auch ein kontinuierliche Rückwanderung geben. Entscheidund ist deshalb nicht, ob 100 000 oder 150 000 Personen jährlich nach Deutschland kommen werden. Wesentlich ist vielmehr, wann sie kommen dürfen und welche Bedingungen sie dabei vorfinden.

Der gegenwärtige Fachkräftemangel ist erst die Spitze des Eisbergs. Schon bald werden Ausbildungs- und Arbeitsplätze für qualifiziertes Personal nur noch schwer zu besetzen sein. Dies ist Folge der demographischen Veränderungen und einer kurzsichtigen Ausbildungspolitk. Unser Ausbildungssystem kann nicht von heute auf morgen auf die veränderten Gegebenheiten reagieren. Eine rasche Reaktion ist aber erforderlich, wenn wir international den Anschluss halten wollen. Nicht nur in Deutschland fehlen Fachkräfte. Der internationale Wettbewerb um die besten Köpfe beginnt gerade erst. Wenn wir jetzt nicht handeln, tun dies andere, nicht zuletzt die potentiellen Immigranten, die sich dann für die attraktiveren Angebote anderer Staaten entscheiden werden.

Sicherlich gibt es Anpasungsprozesse in Deutschland; aber sie finden nicht zwangsläufig da statt, wo heute die größten Befürchtungen herkommen - in Ostdeutschland. Arbeitsmigranten wandern in prosperierende Zentren, werden sich also kaum in ostdeutschen Problemregionen niederlassen. Anders ist dies höchstens in den bayerischen Grenzregionen zu Tschechien, wo das Lohngefälle größer und die Potenziale attraktiver als in Ostdeutschland sind. Eine neue deutsche Zuwanderungspolitik ist nötig. Dabei werden gelegentlich Nebenschauplätze eröffnet. Ein Umbau des Sozialstaates ist angebracht, er kann aber Zuwanderer, die sich ihre Einbindung verdient haben, nicht zu Bürgern zweiter Klasse machen. Es wäre also falsch, diese Diskussion im Hinblick auf eine Eindämmung der Zuwanderung aus Osteuropa zu führen. Wir brauchen einen Fahrplan zur Freizügigkeit, der sich an den Interessen des heimischen Arbeitsmarkts orientiert. Dieses Interesse kann kaum darin liegen, die Arbeitnehmerfreizügigkeit lange auszusetzen. Vieles spricht dafür, sie von vornherein ohne Wenn und Aber zu gewähren. Eine mehrjährige Übergangsfrist würde bedeuten, dass die westeuropäischen Arbeitsmärkte erst zum Ende des laufenden Jahrzehnts geöffnet werden. Genau dann aber, das zeigen die demographischen Trends, wird Deutschland gar keinen Zuwanderungsbedarf haben. Erst um das Jahr 2015 wird sich der Ausfall des heimischen Erwerbspersonenpotentials wieder dramatisch vergrößern. Natürlich sollte eine berechenbare Zuwanderungspolitik nicht Veränderungen des Erwerbspersonenpotentials hinterherjagen. Sinnvoll sind Verstetigung und qualitative Steuerung. Das kann letztlich nur ein zuwanderungsgesetzliches Instrumentarium leisten. Im Falle der EU-Osterweiterung entfällt aber diese Steuerungsmöglichkeit. Wann immer auch die Arbeitsnehmerfreizügigkeit gewährt wird: Es ist damit zu rechnen, dass dann eine zunächst stärkere, nicht steuerbare Zuwanderung von EU-Bürgern aus Osteuropa einsetzen wird. Nach einigen Jahren wird sie dann sehr stark zurückgehen. Unser Augenmerk muss deshalb dem richtigen Zeitpunkt des Beginns der Freizügigkeit gelten. Eine Übergangsfrist würde eine zusätzliche Zuwanderung aus Osteuropa zu einem Zeitpunkt auslösen, wo wir sie eigentlich drosseln müssten. Dagegen würde eine sofortige Freizügigkeit zur Mite des Jahrzehnts auf den größten Erwebspersonenbedarf stoßen, sodass die wahrscheinliche Zuwanderung hochwillkommen ist. Im Osten entstehen im Übrigen durch die EU-Erweiterung neue Absatzmärkte für Güter und Dienstleistungen. Zuwanderer aus Osteuropa bringen Sprachkenntnisse und kulturelles Kapital mit. Beides wird benötigt, um unternehmerische Aktivitäten in diesen Märkten besser vorbereiten zu können. Wird Migration nicht rasch zugelassen, dann könnten arbeitsintensive Produktionen vom Westen in den Osten Europas verlagert werden, mit dauerhaften Konsequenzen für den hiesigen Arbeitsmarkt. Auch erzeugt eine Politik der geschlossenen Grenzen weitere Anreize zur illegalen Zuwanderung. Gerade im Niedriglohnbereich würde die Arbeitslosigkeit in Deutschland ansteigen.

Die überzeugende Strategie besteht darin, unsere Arbeitsmärkte im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung sofort zu öffnen und gezielt um die Qualifizierten aus Osteuropa zu werben. Hier gibt es endlich einmal einen deutschen Standortvorteil. Viele Osteuropäer leben bereits in Deutschland, deshalb ist unser Land für andere Zuwanderungswillige attraktiv. Wenn wir die besten von ihnen nicht an andere Regionen der Welt verlieren wollen, dann sollten wir sie nicht abschrecken. Deutschland wäre also gut beraten, auf Übergangsfristen ganz zu verzichten.


Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.

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