Akuter Fachkräftemangel durch Demografie

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19. September 2006, Börsen-Zeitung

(Bericht über Vortrag von Klaus F. Zimmermann)

Bereits ab 2015 wird es kritisch - DIW-Chef Zimmermann kritisiert "Lippenbekenntnisse" der Unternehmen
 

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Das noch im vorvergangenen Jahr als "Unwort des Jahres" geschmähte "Humankapital" wird in einigen Jahren wohl in ganz anderem Licht betrachtet: Wurden die Arbeitnehmer bislang eher als Kostenfaktoren gesehen, denen nur mit Massenentlassungen beizukommen war, wird es in den nächsten Jahrzehnten zumindest um gut ausgebildete Erwerbstätige vom Hochschulabsolventen bis hin zum Meisterschüler einen heftigen Wettbewerb geben. Und auch ältere Arbeitnehmer, die bislang mit Vorruhestandsregelungen aus den Betrieben komplimentiert worden sind, werden sich neuer Wertschätzung erfreuen. Denn mit dem demografisch bedingten Rückgang der Erwerbstätigen wird man sich ihrer Leistungsfähigkeit wieder bewusst.

Während die ersten Folgen der demografischen Umwälzung bereits in etwa einem Jahrzehnt zu spüren sein werden, lassen sich Politik und Wirtschaft nach Ansicht von Klaus F. Zimmermann, Direktor des Instituts für die Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn und Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, indes weiter treiben, statt zu handeln und das regulatorische und unternehmerische Umfeld den neuen Herausforderungen anzupassen.

"Demografischer Wandel als unternehmerische Herausforderung", so lautet denn auch das Thema des 60. Deutschen Betriebswirtschafter-Tages, der in diesem Jahr in Frankfurt stattfindet. Referenten aus Wissenschaft und Praxis diskutieren über die Folgen des Arbeitskräfterückgangs sowie der Alterung für Produkte, Marketing, Pensionen und Personalpolitik.

DIW-Chef Zimmermann drängte Politik und Wirtschaft zur Eile, denn die demografische Entwicklung sei unaufhaltsam und könne allenfalls etwas gebremst und verzögert werden. So werde ohne entsprechende Zuwanderung die Zahl der Erwerbspersonen im Jahr 2015 um etwa 150 000 schrumpfen, fünf Jahre später aber bereits um weitere knapp 270 000 mit wachsender Tendenz. Bei einer Nettozuwanderung von etwa 200 000 Personen im langjährigen Mittel sei diese Entwicklung nicht mehr zu kompensieren. Zudem seien von den gegenwärtigen Zuwanderern allenfalls 60 % in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Punkteregel für Zuwanderer

Zimmermann forderte in diesem Zusammenhang eine kohärente Zuwanderungspolitik, die eine gezielte Steuerung der Immigration anstrebt. Bewährt hat sich nach seiner Meinung dabei ein Punktesystem nach dem Vorbild Australiens und Kanadas. Dabei sollten die Qualifikation, das Alter und die Berufserfahrung ebenso eine Rolle spielen wie die Sprachkenntnisse oder ein vorheriger Aufenthalt im Land bzw. bereits ansässige Verwandtschaft. Für eine temporäre Zuwanderung, die akute Lücken schließt, kann sich Zimmermann ein Auktionsverfahren vorstellen, in dem Unternehmen das Recht ersteigern müssen, auf dem Weltmarkt nach Zuwanderern zu suchen. Dadurch müssten die Unternehmen ihre Kalkulation offen legen, und der Staat könne einen Teil der damit erzielten erwarteten Unternehmensgewinne abschöpfen.

Neben der Zuwanderung muss ein erfolgreicher "policy mix" nach Meinung von Zimmermann auch die Erwerbsquote von Frauen steigern. Hier kritisierte er die "Lippenbekenntnisse" vieler Unternehmer, die sich zwar immer dazu bekannten, in der Praxis aber die Personalpolitik und das Umfeld nicht ändern würden. Notwendig seien flexiblere Arbeitszeitmodelle, Kinderbetreuungsangebote, Telearbeit und Weiterbildungsangebote während der Elternzeit, um das "Humankapital" von Frauen zu binden und zu erhalten.

Schließlich müssen die Unternehmen auch ihr Verhältnis zu älteren Arbeitnehmern überdenken. Die Weiterbeschäftigung älterer Arbeitnehmer sei angesichts der bevorstehenden "Nachschubprobleme" im Fachkräftesegment des Arbeitsmarktes "ohne Alternative". Kurzsichtige Ausgrenzungsstrategien der Vergangenheit würden noch nachwirken. Neben den Unternehmen, die ihre betrieblichen Strukturen nicht hinreichend auf Qualifizierung und altersgerechte Beschäftigungs- bzw. Entlohnungsmodelle ausgerichtet haben, sei hier auch der Staat gefordert, die private Weiterbildung im Alter zu fördern und die Lebensarbeitszeit weiter zu verlängern. In Bezug auf die Weiterbildung sieht Zimmermann aber auch die Hochschulen in der Pflicht, entsprechende Angebote zu schnüren. Da Deutschland keine Weiterbildungstradition und -struktur aufgebaut habe, falle es den Verantwortlichen besonders schwer, hier tätig zu werden.

Weiterbildung forcieren

Nicht nur in Bezug auf ältere Arbeitskräfte, sondern grundsätzlich gehört zu einer Strategie zur Bewältigung der demografischen Umwälzungen ein besseres Bildungsangebot. Während nämlich einerseits zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit ausgebildete Facharbeiter und Universitätsabsolventen verstärkt nachgefragt werden, wovon das deutsche Bildungssystem nach Darstellung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zu wenig "produziert", werden ungelernte Arbeitskräfte, von denen es zu viele gebe, es auch in Zeiten höchster demografischer Anspannung schwer haben, eine Anstellung zu finden. Dieser "qualifikatorische ,mismatch‘", so Zimmermann, sei der Grund dafür, dass trotz Rückgangs an Arbeitskräften insgesamt die Demografie wohl nicht für eine Entspannung auf dem Arbeitsmarkt sorgen werde.


Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.

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