Arbeiten bis siebzig

Logo
18. August 2005, Süddeutsche Zeitung

(Gastbeitrag von Klaus F. Zimmermann und Holger Bonin)

Ohne mutige Reformen kollabiert die gesetzliche Kasse
 

Als 1891 die gesetzliche Rente in Deutschland eingeführt wurde, konnten die Menschen Altersruhegeld erst nach dem 70. Lebensjahr erhalten. Die durchschnittliche Lebenswartung lag damals unter 40 Jahren. Seitdem hat sich die Lebenserwartung mehr als verdoppelt. Wer heute mit 65 in Rente geht, kann damit rechnen, noch über 15 Jahre zu leben. Projektionen gehen davon aus, dass die Menschen auch in Zukunft jedes Jahrzehnt ein Jahr später sterben.

Diese Perspektive stellt die Rentenversicherung in ihrer bisherigen Struktur vor massive Probleme. Da die Erwerbstätigen für die laufenden Rentenzahlungen aufkommen müssen, steigt der Finanzierungsbedarf an. Heute kommen auf 100 Erwerbsfähige 26 Personen im Rentenalter. 2030 wären es schon 43, wenn man am derzeitigen Rentenalter von 65 festhalten würde. Dieser Zuwachs speist sich zum Teil aus den niedrigen Geburtenraten in der Vergangenheit, geht zu rund einem Drittel aber auf das Konto der steigenden Lebenserwartung.

Entgelt nach Leistung

Läge 2030 das Rentenalter bei 70 Jahren, bliebe das Verhältnis der Bevölkerung im Erwerbs- und Rentenalter im Vergleich zu heute praktisch unverändert. Diese Rechnung zeigt, dass ein solcher Schritt die Finanzsituation der Rentenkassen stabilisieren könnte. Allerdings sind Rentenreformen bei den Wählern unpopulär. Darum bleiben die Wahlprogramme zur Zukunft der Rente vage. Die Politik konzentriert sich vor allem auf die kurzfristigen Finanzierungslücken durch die hohe Arbeitslosigkeit.

Zwar hat die letzte Rentenreform mit Erfolg einige überfällige Korrekturen vorgenommen. So ist allein durch Eindämmung der Frühverrentung das Rentenzugangsalter in kurzer Zeit um ein Jahr gestiegen. Die Maßnahmen reichen aber nicht aus, um die Beitragssätze auf dem ohnehin hohen Niveau von heute zu stabilisieren. Dazu wäre eine weitaus stärkere Absenkung des Rentenniveaus erforderlich als vorgesehen. Wenn man dies nicht will, um Altersarmut zu verhindern, bleibt nur die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Daher wurde von der Rürup-Kommission die Rente mit 67 vorgeschlagen. Da diese aber nicht ohne weitere Beitragssatzsteigerungen auskäme, wäre ein mutigerer Schritt, nämlich die langfristig angelegte schrittweise Anhebung der gesetzlichen Regelaltersgrenze auf 70 Jahre, die bessere Lösung.

Unser Arbeitsmarkt würde das verkraften. In anderen Ländern, wo die Menschen länger arbeiten, ist die Altersarbeitslosigkeit tendenziell geringer als in Deutschland. Zudem herrscht schon heute in einigen Bereichen Fachkräftemangel. Weil dieser weiter zunimmt, werden es sich die Betriebe nicht mehr leisten können, die erfahrenen und leistungsfähigen Alten früh in Rente zu schicken. Bei späterer Rente lohnen sich zudem mehr Investitionen in Qualifizierung. Um gegen die allmähliche Entwertung des Wissens im Erwerbsleben anzugehen und die berufliche Flexibilität bis ins Alter zu erhalten, müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer die berufliche Weiterbildung auch in der zweiten Hälfte des Erwerbslebens forcieren. Flexiblere Lösungen bei der Entlohnung helfen, den Arbeitsmarkt für Ältere zu öffnen. Hierzu gehören leistungsgerechte Entgelte statt der vielfach tariflich fixierten Entlohnung nach Seniorität.

Ohne einen späteren Rentenzugang werden wir bald nur noch eine Mindestrente finanzieren können, oder die Rentenbeiträge müssen deutlich steigen. Beides würde das Fundament des Generationenvertrags weiter unterspülen. Schon heute ist das Umlageverfahren mit impliziten Renditen nahe Null für Jüngere kaum noch attraktiv. Kein Wunder, dass wir eine wachsende Flucht aus der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zu verzeichnen haben. Allein auf mehr Wirtschaftswachstum zu setzen, wäre naiv, denn die Renten sind an die Löhne gekoppelt. Jedes Lohnwachstum führt zu Ausgabenwachstum. Ein Beitragsanstieg kann so nicht gestoppt werden.

Die "Rente mit 70" sollte als Einstieg in einen flexibleren Rentenzugang genutzt werden. Konkret könnte das so aussehen: Zwischen 65 und 75 Jahren ist der Renteneintritt jederzeit möglich. Allerdings müssen Versicherte, die vor Erreichen der Regelaltersgrenze in Rente gehen, einen Abschlag bei der Rente hinnehmen. Dieser muss so bemessen sein, dass Beitragsmindereinnahmen und längere Rentenzahlungen bei Frühverrentung genau ausgeglichen werden. Versicherte, die über die Regelaltersgrenze hinaus arbeiten, könnten eine höhere Rente erzielen. Um einen gleitenden Übergang in den Ruhestand zu ermöglichen, lässt sich dieses System durch Altersteilzeit ergänzen.

Nur durch entschlossene Reformen lässt sich das bedrohte deutsche Rentensystem bewahren. Eine längere Lebensarbeitszeit könnte viel demografischen Druck aus dem System nehmen. Zusätzlich sollte die ältere Generation etwa durch eine Mehrwertsteuererhöhung stärker an der Rentenfinanzierung beteiligt werden. Dies wäre fair, denn diese Generation profitiert von der Erhöhung des Rentenniveaus in den 70er Jahren, hat aber den im Umlageverfahren angelegten Generationenvertrag gebrochen, indem sie nicht für ausreichend Nachwuchs sorgte, um das System zu erhalten.


Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.

Back