Die Steuerreform kreditfinanziert vorziehen!

Logo
August 2003, Wirtschaftsdienst, 83 (2)

(Gastbeitrag Klaus F. Zimmermann)
 

Die makroökonomische Gesamtlage der deutschen Wirtschaft bleibt trotz zahlreicher Wiederbelebungsversuche und den wiederholten Abgesängen professioneller Gesundbeter auch zur Jahresmitte 2003 ziemlich trostlos(1). Die gesamtwirtschaftliche Leistung in Deutschland sank auch im zweiten Quartal dieses Jahres. Nachdem damit die Produktion auch im zweiten Quartal in Folge zurückging, muss jetzt technisch gesehen sogar von einer Rezession gesprochen werden. Zwar kann man in einer fairen qualitativen Bewertung der Lage nur von einer Vertiefung der anhaltenden Stagnation sprechen. Doch dauert nun der konjunkturelle Schwächeanfall der deutschen Ökonomie bereits drei Jahre. Auch ist erkennbar, dass sich diese Entwicklung im dritten Quartal 2003 fortsetzt und bestenfalls zum Jahresende in ein kriechendes Plus einmündet.

Die weltwirtschaftliche Lage ist dabei wenig hilfreich. Zwar wird sich die amerikanische Ökonomie stabilisieren und 2004 wieder ein Wachstum von über 3 Prozent vorlegen. Doch hemmt der starke Euro-Kurs die Übertragung konjunktureller Impulse auf Europa erheblich. Die Unsicherheiten des Wiederaufbau-Engagements im Irak, die Irritationen des amerikanischen Arbeitsmarktes und die langfristigen Konsequenzen des ansteigenden amerikanischen Budgetdefizits machen eine Aufwertung des Dollars wenig wahrscheinlich. So wird der Euroraum mangels eigener dynamischer Elemente wohl 2003 mager stagnieren und 2004 nur gemäßigt mit etwa 1,5 Prozent wachsen.

Eine wirtschaftliche Erholung in Deutschland kann sich also nicht auf Faktoren der Außenwirtschaft stützen, wie das im Drehbuch deutscher Wirtschaftsaufschwünge nach dem zweiten Weltkrieg immer wieder festgeschrieben wurde. Das Exportklima kühlt sich derzeit bereits ab, die Ausfuhren tragen nicht nur die deutsche Wirtschaftsentwicklung nicht mehr, sie schaden ihr deshalb sogar. Zwar ist getrieben von der Debatte über die Steuerreform und die Akzente der Strukturreformen der sozialen Sicherungssysteme das Konsum- und Investitionsklima günstiger geworden. Diese Erwartungen werden sich aber in diesem Jahr nicht mehr realisieren. So ist 2003 mit einer negativen Stagnation und 2004 nur mit einem mäßigen Aufschwung zu rechnen, der etwa im europäischen Durchschnitt liegt. Das reicht nicht aus, um den weiteren Aufbau der Arbeitslosigkeit bis weit in das nächste Jahr hinein zu stoppen.

Dazu kommt: Die so lange ungelösten Strukturfragen auf dem Arbeitsmarkt und bei den sozialen Sicherungssystemen, der zu spät gestartete Prozess der Sanierung der öffentlichen Finanzen und die vernachlässigten Investitionen in Infrastruktur, Forschung und Bildung erschweren die Chance, eine nachhaltige Stärkung des deutschen Wachstums einzuleiten. Die deutsche Wirtschaftspolitik steht deshalb vor einem komplizierten Drei-Sprung: Erforderlich ist erstens ein Vorziehen der Steuerreform, die 2004 kreditfinanziert erfolgen muss, um einen vernünftigen konjunkturellen Impuls auszulösen. Zweitens muss der Stabilitäts- und Wachstumspakt in diesem und im nächstem Jahr flexibel interpretiert werden, ohne die langfristige Sanierung der Staatsfinanzen aus dem Auge zu verlieren. Drittens müssen nachhaltige Strukturreformen des Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherungssysteme zügig eingeleitet werden, ohne kurzfristige makroökonomische Destabilisierungen hinzunehmen.

Solche komplexen Strategien strapazieren die Möglichkeiten des politischen Systems in Deutschland, das simple Lösungen präferiert. Das würde aber hier geradezu in die Sackgasse führen. Strukturreformen ohne eine Sensibilität für die makroökonomischen Rahmenbedingungen führen tiefer in die konjunkturelle Krise. Ein fiskalpolitisches Feuerwerk dagegen ohne substantielle strukturelle Änderungen würde die Lähmung der wirtschaftlichen Kräfte verstärken, sobald das ausgelöste Strohfeuer verbrannt ist.

Effekte des Vorziehens

Das Bundeskabinett hat inzwischen das Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform von 2005 auf 2004 beschlossen. Nach der bisherigen öffentlichen Diskussion ist davon auszugehen, dass die Opposition dies durch ihre Mehrheit im Bundesrat nicht grundsätzlich blockiert, jedenfalls wenn die bayerische Landtagswahl überzeugend abgeschlossen wird.

Die Entlastungswirkungen sind erheblich(2), sie konzentrieren sich aber stärker auf die Steuerpflichtigen mit höheren Einkommen. Die vollen Wirkungen ergeben sich allerdings erst, nachdem die Veranlagungen für das Kalenderjahr 2004 vollzogen wurden. Es könnte daher sein, dass ein geringerer Teil der Entlastung erst in den nächsten Jahren bei den Steuerpflichtigen ankommt, soweit die Vorauszahlungen der Selbständigen oder der Bezieher von hohen Kapitaleinkommen nicht ausreichend angepasst werden.

Auch muss für die konjunkturelle Wirkungsanalyse des Vorziehens der Steuerreform beachtet werden, wie die Gegenfinanzierung erfolgt. Dabei ist es wichtig zu berücksichtigen, dass neben dem Bund auch Länder und Gemeinden erheblich belastet werden. Insbesondere die maroden Gemeindefinanzen lassen vermuten, dass es bei der Umsetzung zu erheblichen Problemen kommen wird. Die Debatte um die Reform der Gemeindefinanzen muss deshalb parallel zum Abschluss gebracht werden. Werden im Ergebnis die Steuerausfälle bei den Kommunen durch eine Rückführung der Infrastrukturinvestitionen kompensiert und bei Bund und Ländern durch einen Abbau von Subventionen gegenfinanziert, so kann das konjunktur- und wachstumspolitisch bedenklich sein.

Der Bund will nach den bisherigen Ankündigungen seine Ausfälle 2004 überwiegend durch Kreditaufnahme und Privatisierungen finanzieren. Tun dies auch Länder und Gemeinden, dann kann bereits im Jahre 2004 das Wirtschaftswachstum um 0,3 Prozentpunkte und 2005 um 0,4 Prozentpunkte höher sein, als es sonst wäre. Für 2004 bedeutet dies, dass statt der vom DIW Berlin prognostizierten 1,3 Prozent ein Wachstum von 1,6 Prozent möglich wäre. Der Gesamteffekt einer Konjunkturstimulierung bleibt also bescheiden. Wird allerdings das Vorziehen der Steuerreform komplett durch Sanierungsmaßnahmen gegenfinanziert, dann verpufft der konjunkturelle Effekt vollkommen.

Bei einer durch Defizite ausgeglichenen Maßnahme geht der größte Einfluss von einer deutlichen Verbesserung der privaten Konsumnachfrage aus. Aber auch die privaten Investitionen würden ansteigen. 2004 würde die Sparquote der privaten Haushalte zwar auch deutlich zunehmen, was den konjunkturellen Effekt zunächst abschwächt, das Sparverhalten würde sich aber bald wieder anpassen. Dazu kommt, dass die Sparquote bereits in letzter Zeit durch "Angstsparen" angewachsen war und sich der Konsumstau in absehbarer Zeit lösen wird. Die privaten Haushalte reagieren mit ihren Konsumausgaben aber insgesamt eher zögerlich auf Einkommenserhöhungen.

Das öffentliche Defizit erhöht sich durch das kreditfinanzierte Vorziehen der Steuerreform 2004 fast im gesamten Umfang der Steuersenkung. Die Defizitquote nach dem Stabilitäts- und Wachstumspakt, das Budgetdefizit bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt, würde sich durch die Maßnahme um 0,7 Prozentpunkte erhöhen. Dies bedeutet bei Umsetzung die faktische Aussetzung des Paktes, wie kreativ immer die Politik das benennen wird.

Der Stabilitätspakt vor dem Ende?

Stabilität im europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt ist fiskalische Stabilität, Ziel ist der mittelfristige Budgetausgleich. Eine Monofixierung der Politik auf diese Dimension übersieht nicht nur, dass Budgetausgleich kein Selbstzweck ist, sondern sie ignoriert auch, dass das Hineinsparen in eine wirtschaftliche Krise die Möglichkeiten reduziert, dieses Ziel auch zu erreichen.

Die fiskalische Stabilisierung ist um so leichter erreichbar, je besser sich die konjunkturelle Lage darstellt. Länder mit hohem Wirtschaftswachstum haben größere Erfolge bei der Budgetstabilisierung erreicht als Länder mit niedrigem Wachstum. Insoweit ist das Ziel der Vermeidung von Konjunkturschwankungen nicht im Widerspruch mit der mittelfristigen fiskalischen Stabilisierung. Der Widerspruch entsteht nur durch die naive Fixierung des europäischen Paktes auf eine jährliche Zielabgrenzung und die Wahl einer Zieldefinition, die von den politischen Akteuren nur begrenzt beeinflusst werden kann. Besser wäre es, die fiskalische Stabilisierung mittelfristig an der Entwicklung der staatlichen Ausgaben festzumachen.

Auch aufgrund der mittelfristig nötigen Erfüllung des fiskalischen Paktes verstärken die Einnahmenausfälle die Notwendigkeit für eine mittelfristige harte Haushaltssanierung und somit den Reformbedarf. Das Vorziehen der Steuerreform bedeutet nur eine einmalige kreditäre Vorfinanzierung. Wenn damit dauerhafte Ausgabenreduktionen im Staatshaushalt und drastische Sanierungsanstrengungen bei den sozialen Sicherungssystemen und am Arbeitsmarkt erkauft werden können, dann rechnet sich diese Maßnahme auch aus Sicht einer vorausschauenden Strukturpolitik.

Gleichzeitig entsteht ein erhöhter Druck für eine Reform des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes, die angesichts der offensichtlichen Mängel dringend notwendig erscheint(3). Selbst eine begrenzte makroökonomische Krise, wie sie sich derzeit in Europa darstellt, bringt die Ausführung des Paktes in allen größeren Mitgliedsstaaten in Schwierigkeiten. Dies kann für die Glaubwürdigkeit des Paktes und der dahinterstehenden fiskalischen Strategie nicht gut sein. Nur funktionierende Regeln werden auf Dauer die gewünschten Effekte zeigen.

Bei der Sanierung der öffentlichen Haushalte ist zu beachten, dass Investitionen in Sach- und Humankapital, die das Wirtschaftswachstum langfristig erheblich mittragen, geschützt werden. Die Sanierungsaufgabe erhält somit neben dem quantitativen ein qualitatives Element. Das erfordert für den Bund eine Verpflichtung zur stärkeren Förderung von Forschung, Innovationen, Bildung und Wissenschaft. Es zwingt die Gebietskörperschaften aber auch, dem schwächsten Glied in der Kette, den Kommunen, größere Spielräume zum Stopp des bedrohlichen Rückgangs der Infrastrukturinvestitionen zu geben.

Neben einer Beschränkung der Personalaufwendungen im öffentlichen Dienst, die nur sehr langfristig zu erreichen ist, muss die Haushaltssanierung durch den Abbau von Subventionen weiter vorangetrieben werden. Will man keine Anwendung des "Rasenmäher-Prinzips", dann stellt sich die politisch schwierige Frage nach der Auswahl der Maßnahmen. Dabei können das Einsparpotential oder eine vermutete Kosten-Nutzen-Analyse Gestaltungshinweise geben. Aufgrund ihrer Dimension wie aber auch aufgrund der mangelnden Notwendigkeiten bieten sich hier eine Reihe von Optionen an: Die Wohnungsbauförderung ist angesichts des Überangebots kaum noch vertretbar. Die steuerliche Abzugsfähigkeit von Fahrtkosten zwischen Wohnung und Arbeitsplatz ist bei einem Mietgefälle zwischen Stadt und Land nicht gerechtfertigt; auch sprechen ökologische Gründe dagegen. Es bleibt auch zweifelhaft, warum die Ableistung von Überstunden und Nacht- und Wochenendarbeit durch Steuerbefreiung gefördert werden muss. Die Förderung der Agrarwirtschaft und des Steinkohlebergbaus könnte zügiger zurückgefahren werden. Generell sollten alle Erhaltungssubventionen zeitlich befristet werden.

Strukturreformen und Steuerreform

Gelegentlich wird argumentiert, das - gar kreditfinanzierte - Vorziehen der Steuerreform sei schädlich, da dies den Reformdruck auf das politische System mindern würde. Erst in einer großen wirtschaftlichen Krise seinen die notwendigen harten Maßnahmen umsetzbar. Dies hat eine zynische Komponente, da bewusst eine Krise herbeigeführt wird, um den Leidensdruck zu verstärken. Damit könnte etwa bei den öffentlichen Haushalten in die drohende Rezession hineingespart werden.

Es ist fraglich, ob dies eine tragfähige, transparente politische Strategie sein kann. Die Erfolgschancen einer solchen Politik wären auch angesichts praktischer Lebenserfahrungen zweifelhaft. Auch widerspricht dies Erfahrungen der Innovationspolitik in den Unternehmen. In Krisenzeiten wird rationalisiert, aber die entscheidenden Produkt-Innovationen werden erst bei günstigen wirtschaftlichen Erwartungen durchgeführt. Für den politischen Prozess gilt auch, dass das kreditfinanzierte Vorziehen der Steuerreform einige strukturpolitische Maßnahmen leichter durchsetzbar macht.

Umgesetzt auf den Reformprozess heißt dies, dass die makroökonomischen Wirkungen der Reformmaßnahmen abgeschätzt und bei der Gestaltung der zeitlichen Abläufe einbezogen werden müssen. So kann vermieden werden, dass die notwendigen Begrenzungen in den Ausgaben der Sicherungssysteme rezessive Effekte auslösen. Umgekehrt dürfen die Anreizwirkungen konsequenter Reformen für die Arbeits- und Leistungsbereitschaft der Bürger und ihrer vertrauensstiftenden Wirkungen für die Verbesserung der Konsum- und Investitionsaktivität nicht gering geschätzt werden. Das Konsum- und Investitionsklima in Deutschland hat sich auch ohne harte neue Fakten verbessert. Dies sollte auch Ausdruck des durch die vorgezogene Steuerreform und den einsetzenden Reformprozess gewachsenen Vertrauens sein, dass sich die deutsche Gesellschaft jetzt auf dem richtigen Weg befindet. Dies muss jetzt durch eine Vertiefung der Reformprozesse, aber auch durch den unverzüglichen Beschluss zur Steuerreform rasch bestärkt werden.

Strategische Bindungen der Politikmaßnahmen

Ein makroökonomischer Flankenschutz zur Bekämpfung kurzfristiger Störungen und die strukturpolitischen Maßnahmen, die über einen längeren Zeitraum am Arbeitsmarkt, im Gesundheitssystem, bei den Renten und in den öffentlichen Haushalten umgesetzt werden sollen, müssen in einen konzeptionellen Gesamtzusammenhang gebracht und glaubwürdig vermittelt werden. Eine Aussetzung des europäischen Stabilitätspaktes und ein kreditfinanziertes Vorziehen der Steuerreform kann nur umgesetzt werden, wenn damit eine glaubwürdige Verpflichtung auf eine mittelfristige Haushaltssanierung und eine konsequente Reformierung des Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherungssysteme verbunden ist.

Dabei geht es um die rechtlich zuverlässige Selbstbindung und um die Tiefe und die Qualität der notwendigen Maßnahmen. Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat müssen bald zu auch langfristig überzeugenden Konzepten kommen. Hier gibt es für den Herbst noch erheblichen Nachsteuerbedarf.

Dann sollten sich diese Institutionen in einer Erklärung binden, die gefundenen mittelfristigen Sanierungsmaßnahmen der Haushalte und der sozialen Institutionen künftig nicht mehr vordergründigen politischen Opportunitäten zu opfern. Mit dem europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt ist in diesem Zusammenhang sensibel umzugehen. Er ist ein Instrument der Selbstbindung nationaler Politik durch internationale Verträge . Diese an sich positive Einrichtung darf nicht angesichts von Konstruktionsmängeln kaputt reformiert werden.


(1) Eine ausführliche Analyse der wirtschaftlichen Lage findet sich im Wochenbericht des DIW Berlin: Tendenzen der Wirtschaftsentwicklung 2003/2004, Nr. 27-28, 2003 und im Wochenbericht des DIW Berlin: Konjunkturelle Entwicklung weiter labil, Nr. 32, 2003.

(2) Eine genauere Ausarbeitung der Wirkungen mit und ohne Gegenfinanzierung gibt der Wochenbericht des DIW Berlin: Tendenzen der Wirtschaftsentwicklung 2003/2004, Nr. 27-28, 2003.

(3) Zur Reformdiskussion um den Stabilitäts- und Wachstumspakt mit weiteren Literaturhinweisen vgl. Tilman Brück, Andreas Cors, Rudolf Zwiener und Klaus F. Zimmermann: Stability Criteria and Convergence: The Role of the System of National Accounts for Fiscal Policy in Europe, in: Allgemeines Statistisches Archiv, 87 (2003), S. 113 – 131; und Klaus F. Zimmermann: Zur unabdingbaren Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, 1 (2003), S. 230 - 239. Zur Frage der Selbstbindung durch internationale Kontrakte und dem Pakt vgl. Ralph Rotte und Klaus F. Zimmermann: Fiscal Restraint and the Political Economy of EMU, in: Public Choice, 94 (1998), S. 385 - 406.


Reprinted with permission.

Back