Freiheit in Gefahr

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June 13, 2015, Luxemburger Wort

(Op-ed by Klaus F. Zimmermann)

30 Jahre nach Schengen: Luxemburgs Ratspräsidentschaft muss der europäischen Idee neue Impulse geben
 

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In Luxemburg wurde vor 30 Jahren Geschichte geschrieben: Am 14. Juni 1985 legten Luxemburg, Frankreich, Belgien, die Niederlande und Deutschland im kleinen Grenzort Schengen den Grundstein für einen schrittweisen Abbau der Grenzkontrollen für Personen. Mutige europäische Politiker verfolgten eine große Vision: Ein Europa ohne Grenzen.

Auch wenn noch zehn Jahre vergehen sollten, bis die rechtlichen Hürden überwunden und die Beschlüsse von Schengen praktisch umgesetzt werden konnten, war dieses Datum ein Meilenstein für Europa. Seitdem haben sich 21 weitere europäische Länder der damaligen Idee angeschlossen und sind Vollmitglieder des Schengen-Raums. Nur ganze sechs EU-Staaten sind nicht oder noch nicht dabei. Heute genießt jeder Bürger im „Schengen-Raum“ ganz selbstverständlich diesen Zugewinn an persönlicher Freiheit und hat im Zweifel selbst gar keine andere Zeit mehr erlebt.

Dies ist eine Erfolgsgeschichte. Der Wegfall der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen der Schengen-Staaten ist das spürbarste Zeichen dafür, dass Europa enger zusammengerückt ist. Schengen steht aber auch ganz prinzipiell als Signal dafür, dass das „europäische Haus“ auf dem Gedanken der Freizügigkeit seiner Bürger aufbaut. Deshalb ist diese Leitidee auch in den europäischen Verträgen als Grundrecht fixiert. Sie ist auch die politische Ergänzung zur freien Arbeitsplatzwahl, die seit Anbeginn der europäischen Einigung das Kernelement der wirtschaftlichen Vision darstellt. Die Arbeitsmobilität ist die Basis für die optimale Allokation wirtschaftlicher Faktoren, die Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand vorantreibt.

Dreißig Jahre später ist aber dieses kostbare und auch ökonomisch so erfolgreiche Prinzip nicht mehr unumstritten. Im Gegenteil: Spätestens seit der Zunahme der Terrorgefahr in Europa mehren sich die Stimmen, die neuen „Kontrollen“ und „Beschränkungen“ das Wort reden und damit das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen. Gleichzeitig fürchten viele und vermehrt auch die möglichen wirtschaftlichen Gefahren der erreichten ökonomischen Integration, Verdrängungen nationaler Bürger am Arbeitsmarkt und Ausnutzungen sozialer Netzwerke statt gesteigertem Wohlstand und Gütervielfalt. So haben die Migrationsbewegungen innerhalb Europas seit den Osterweiterungen der Gemeinschaft mancherorts – etwa in Großbritannien oder der Schweiz, aber nicht nur dort – für erhebliche Zweifel an einem Europa ohne Grenzen und der freien Mobilität der Menschen zwischen den europäischen Arbeitsmärkten geweckt.

Dass der britische Premier David Cameron seinen jüngsten Wahlsieg wohl auch der populistischen Ankündigung einer Volksabstimmung über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU verdankt und er damit anti-europäische Stimmungen bedient, passt ins Bild. Den Britten lag immer mehr an einer Freihandelszone als an freier Mobilität der Bürger und politischer Integration. Dazu kommt kommt jetzt die Forderung nach einer vorrangigen Sicherung der Arbeitsplätze für nationale Bürger und die Abwehr einer vermeindlichen Ausnutzung des Wohlfahrtsstaates.

Manchem erscheint das angemessen. Würde nicht ein Europa ohne Großbritannien unseren Abstieg im globalen Spiel um wirtschaftliche und politische Bedeutung rasch weiter beschleunigen? Sind deshalb nicht Kompromisse angebracht, um die Gemeinschaft zu erhalten?

Wir müssen aufpassen, dass ein fahrlässiger Umgang mit einem Kernprinzip Europas nicht eine gefährliche Eigendynamik entfaltet und letztlich die gesamte europäische Idee aufs Spiel setzt. Weder sind die Arbeitsplätze nationaler Bürger bedroht noch gibt es bedeutende Wohlfahrtsmigration. Diese Pappkameraden schüren Stimmungen und mögen Wahlen gewinnen. Sie tragen aber auch dazu bei, die Erfolge der europäischen Integration zu gefährden.

Auch wird die verbreitete Europamüdigkeit nicht etwa verschwinden, wenn wir die Freizügigkeit wieder einschränken, sondern nur noch größer werden. Notwendig ist eine gegenteilige Strategie. Noch vorhandene Mobilitätsbarrieren müssen europaweit abgebaut werden. Die EU als politischer Kern Europas sollte dabei vorangehen. Der „Geist von Schengen“ ist nicht etwa antiquiert, sondern muss dringend revitalisiert werden. Luxemburg kann dazu, wenn es am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, einen wichtigen Anstoß geben.

Statt sie in Frage zu stellen, muss die Mobilität innerhalb Europas weiter gefördert werden. Auf dem Arbeitsmarkt ist die Mobilität sogar trotz der ökonomischen Krise in vielen Ländern insgesamt eher schwach entwickelt. Es gibt nicht zu viel, sondern zu wenig Binnenmobilität. Die vorhandenen Chancen kommen nicht rasch und umfassend genug zu den Menschen, die sie benötigen. Es gibt noch immer zu viele Hemmnisse in vielen Lebensbereichen, angefangen beim Sozial- und Steuerrecht bis zur Anerkennung beruflicher Qualifikationen. Sprachkenntnisse und kulturelle Kommunikation sind nicht genügend ausgebaut. Es fehlt trotz Online-Stellenmärkten an effektiven Zugängen zu den Job-Informationen.

Europa braucht deshalb dringend neue Impulse, damit die Menschen dorthin gehen, wo sie Beschäftigung und eine wirtschaftliche Zukunft finden können. Damit werden nicht nur jene Länder ökonomisch stabilisiert, die momentan mit hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben. Zugleich erhalten so jene Staaten wichtige Wachstumsimpulse, die aufgrund ihrer demografischen Entwicklung dringend auf Fachkräfte angewiesen sind.

Wenn Europa es nicht schafft, diese ökonomischen Ungleichgewichte zwischen den einzelnen Staaten durch gelebte Freizügigkeit besser auszubalancieren, werden politische Populisten diese Situation für ihr Ziel ausnutzen, den weiteren europäischen Einigungsprozess auszubremsen und im Sinne einer Re-Nationalisierung rückgängig zu machen.

Europa muss auch endlich von der schon immer falschen Vorstellung Abschied nehmen, Zuwanderung schade Wirtschaft und Arbeitsmarkt. In Wirklichkeit – das zeigen Studien immer wieder – führt eine richtig organisierte Zuwanderung zu deutlichen Wohlfahrtsgewinnen für die Gesellschaften Europas.

Ein Programm für mehr Freizügigkeit wäre ein wichtiges Signal: Europa versteht die Anforderungen einer globalisierten Welt an interne Funktionalität und Integrationskraft und steht zu jener Leitidee der Offenheit, die vor 30 Jahren den „Geist von Schengen“ geprägt hat.


Reprinted with permission.

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