Ganz Europa ist gefordert

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April 23, 2015, Handelsblatt

(Op-ed by Klaus F. Zimmermann)

Die EU muss sich angesichts der Flüchtlingskatastrophe der Realität stellen, fordert Klaus F. Zimmermann.
 

Die nicht enden wollenden humanitären Katastrophen im Mittelmeerraum können nur noch als Schande für ganz Europa bezeichnet werden. Die Flüchtlingskatastrophe vom Sonntag brachte nun politische Bewegung: Bereits am Donnerstag wollen die europäischen Regierungschefs über Vorschläge beraten, die die Außen- und Innenminister der Europäischen Union gemeinsam mit der Europäischen Kommission gestern vorgelegt haben.

Diese Vorschläge zeigen aber, dass es der Politik primär um eine punktuelle Operation zur Sicherung der Grenzen und zur Vermeidung weiterer Katastrophen mit medialer Sprengkraft geht. Dabei besteht die Gefahr, weit komplexere Zusammenhänge zu übersehen. Neben der zentralen Mittelmeeroute, auf der die Menschen am Wochenende unterwegs waren, gibt es auch die östliche (Griechenland) und die westliche Route (Spanien). Und die Motive und Ursprungsländer sind sehr divers und ändern sich rasch. Kamen im letzten Jahr vor allem Syrer und Eritreer nach Italien, so waren es zuletzt vor allem Migranten aus Gambia, Somalia und dem Senegal.

Krieg, Verfolgung und wirtschaftliche Not sind aber sehr unterschiedliche Kategorien. Über mehr Geld für Seenothilfe, die Zerschlagung von Schlepperbanden, eine bessere Meereskontrolle und die effizientere Abwicklung von Asylanträgen und Abschiebungen hinaus, die die EU plant, sind strategischere Entscheidungen erforderlich. Die weltweiten politischen Entwicklungen und humanitären Gründe, die aus Kriegen und Naturkatastrophen erwachsen, sprechen für eine weitere Zunahme der Zahl von Asylsuchenden und Flüchtlingen im globalen Maßstab. Und erfahrungsgemäß führt wirtschaftliche Entwicklung in der Ursprungsländern auch zu einem höheren Migrationsdruck, da sich dadurch die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Wanderung verbessern. Polizeistaatliche Abschottungsmaßnahmen helfen dauerhaft nicht weiter.

In dieser Lage ist Europa als Ganzes gefordert. Dazu gehört zunächst, dass der illegale Zuwanderungsdruck im gesamten Mittelmeeraum als europäisches Gesamtproblem angesehen werden muss und nicht mehr nur als die Angelegenheit jeweils betroffener Einzelstaaten. Die Rettung Schiffbrüchiger ist genauso eine Gemeinschaftsaufgabe wie die faire Lastenverteilung der Migranten über alle Länder der EU hinweg. Quoten können sich an der Bevölkerungsgröße und der Wirtschaftskraft der Aufnahmeländer orientieren. Die Probleme der Türkei als wichtiger Partner der EU sollten bei der Lösung der Migrationsproblematik nicht ausgeschlossen werden.

Die Lage im Mittelmeerraum könnte sich langfristig durch Schaffung einer Wirtschaftszone mit den Anrainerstaaten entspannen. Bilaterale Abkommen über zirkuläre und temporäre Arbeitsmigration mit den Ursprungsländern wirtschaftlicher illegaler Migration könnten Alternativen bieten. Eine gezielte Informationspolitik könnte dazu beitragen, viele Illusionen über die Lebensbedingungen der Migraten in Europa abzubauen. Schließlich sollten Flüchtlinge und Asylsuchende bei uns frühzeitig in den Arbeitsmarkt integriert werden.

Durch eine Neuausrichtung der Asyl- und Flüchtlingspolitik ist es möglich, die langfristigen wirtschaftlichen Interessen Europas mit unseren kurzfristigen humanitären Verpflichtungen zu verbinden.


Reprinted with permission.

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