Kein Massenansturm auf Deutschland

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April 30, 2011, Der Standard (Österreich)

(Interview mit Klaus F. Zimmermann)
 

Auch Deutschland öffnet am 1. Mai den Arbeitsmarkt. Einen Massenansturm aus dem Osten erwartet Migrationsexperte und Ökonom Klaus Zimmermann nicht. Die besten Kräfte seien ohnehin längst anderswo, erklärt er Birgit Baumann.

Auch in Deutschland gilt ab 1. Mai die neue Arbeitnehmerfreizügigkeit. Woran wird man dies merken?

Am ehesten wird es Änderungen in jenen Bereichen geben, wo Deutschland Entlastung am Arbeitsmarkt braucht. Das betrifft vor allem den Pflege- und Gesundheitsbereich sowie die Bauwirtschaft. Aber es wird keinen Massenansturm auf Deutschland geben. Eher werden bereits bestehende Arbeitsverhältnisse legalisiert. Polinnen, die jetzt noch mit Drei-Monats-Visum in Deutschland sind, können dann dauerhaft bleiben. Das gleiche gilt für den Baubereich.

Warum erwarten Sie keinen Massenansturm?

Die Öffnung am 1. Mai ist keine einmalige Chance, die man schnell nutzen muss. Sie gilt für immer. Gerade Arbeitskräfte in Polen, dem Hauptreserveland Deutschlands, können in Ruhe planen und zunächst die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland und Polen beobachten. In der Wissenschaft spricht man diesbezüglich vom Optionswert des Wartens.

Was ist mit den Akademikern, die Deutschland etwa im IT-Bereich dringend braucht?

Ich rechne nicht damit, dass sich diese bei deutschen Firmen melden werden.

Warum nicht?

Für Hochschulabsolventen hat Deutschland bereits vor zwei Jahren die Grenzen geöffnet. Aber die Besten waren zu diesem Zeitpunkt schon längst aus Polen weg und wollten auch gar nicht nach Deutschland.

Wo gingen sie hin?

Die meisten gingen nach Großbritannien und Irland. Diese Länder hatten, wie auch Schweden, sofort nach der EU-Osterweiterung ihren Arbeitsmarkt völlig geöffnet. Vor allem in Großbritannien gab es einen massiven Anstieg. Ende 2004 lebten 150.000 Polen in England, 2007 waren es dann schon 690.000.

Konnten die genannten Länder wirtschaftlich profitieren?

Dort, wo die Wirtschaft florierte, in Irland und Großbritannien, trugen sie erheblich zur wirtschaftlichen Entwicklung und zur Entlastung der Arbeitsmärkte bei. Dorthin wo die Konjunktur nicht so gut lief, nach Schweden, kamen sie nicht. Es gab dort nicht einmal die so gefürchtete Einwanderung in den Wohlfahrtsstaat.

Österreich und Deutschland haben also durch ihre jahrelange Abschottung die Besten verpasst?

Das kann man so sehen. Die sind jetzt anderswo, und es wird Jahre dauern, bis man hier verlorenes Terrain gutmacht. Die beiden Länder sandten lange kein Signal aus, dass Arbeitskräfte aus dem Osten willkommen sind.

War es klug, sich abzuschotten?

Sicher nicht. Die minder Qualifizierten kamen sowieso, die Fachkräfte verpasste man. Das gilt für Deutschland wie Österreich. Für Deutschland ist klar: Es ist auf Zuwanderung von Fachkräften angewiesen, wir bräuchten eigentlich mehr davon.

Ein paar neue Arbeitnehmer werden ja doch kommen nach dem 1. Mai. Gehen sie nach Westdeutschland oder bleiben sie in der Grenzregion?

Die Erfahrung von 2004 spricht gegen die Grenzregionen. Nach der EU-Osterweiterung ließen sich die meisten Tschechen gleich in München nieder, wo es mehr Jobs gibt als in der tschechisch-deutsch-österreichischen Grenzregion. Auch jetzt wird das so sein. Allerdings rechnen wir damit, dass sowohl in Deutschland als auch in Österreich der Pendelverkehr steigen wird. Die Leute wohnen weiterhin in Polen, Ungarn oder Tschechien, pendeln aber täglich nach Deutschland oder Österreich.

Warum wollte Deutschland vor sieben Jahren den Arbeitsmarkt zunächst abschotten?

Es war eine politische Entscheidung. Damals bereitete Rot-Grün unter Kanzler Gerhard Schröder jene einschneidenden Sozialreformen vor, die dann unter dem Namen "Hartz IV" bekannt wurden. Man hatte Angst vor den Wählern. Einerseits Sozialleistungen zu kürzen, andererseits mehr Arbeitskräfte ins Land zu lassen, die bereit gewesen wären, auch gering bezahlte Jobs anzunehmen, schien nicht vermittelbar. Und in Österreich schürten zu dieser Zeit die Rechten massive Ängste vor Zuwanderern.

Viele fürchten auch jetzt, dass Zuwanderer hauptsächlich am Sozialsystem in Österreich und Deutschland interessiert sind.

Europaweite Untersuchungen zeigen, dass diese Ängste unbegründet sind. Menschen aus Beitrittsländern wandern nicht aus, um Sozialleistungen zu kassieren, sondern um zu arbeiten. Haben sie keine Arbeit, dann gehen sie woanders hin. Dass jemand den Sozialstaat ausbeuten will, ist die Ausnahme.

Klaus Zimmermann (58) ist Professor für Wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Universität Bonn und Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn. Sein Schwerpunkt ist Arbeitsmigration.


Reprinted with permission.

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