Ich rechne nicht mit einer großen Zuwanderung

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April 28, 2011, General-Anzeiger Bonn

(Interview mit Jo Ritzen, IZA Senior Advisor Policy)

Der niederländische Wissenschaftler Jo Ritzen über die Erfahrungen in seiner Heimat mit der Grenzöffnung für Osteuropäer
 

Mit dem niederländischen Wirtschaftsforscher und ehemaligen Bildungs- und Wissenschaftsminister Jo Ritzen sprach Kai Pfundt.

Am 1. Mai fallen für Arbeitnehmer aus den osteuropäischen EU-Beitrittsländern auch die letzten Grenzen zum deutschen Arbeitsmarkt. Muss Deutschland jetzt mit einem Ansturm billiger Arbeiter aus Polen, Tschechien oder Litauen rechnen?

Ritzen: Es wird sicherlich eine Zuwanderung von Arbeitskräften geben, und das wird für manche Beschäftigte in Deutschland problematisch. Die Osteuropäer sind gut ausgebildet, liefern qualitativ hochwertige Arbeit ab und sind dazu billig. Für die Beschäftigten in Deutschland bedeutet das Konkurrenz. Sie dürfen aber eines nicht außer Acht lassen: Polen etwa ist wirtschaftlich ein sehr ehrgeiziges Land mit hohen Zuwachsraten, das selbst Zuwanderer zum Beispiel aus Rumänien, Tschechien oder der Slowakei anzieht.

Wie war die Erfahrung in den Niederlanden, wo die volle Freizügigkeit bereits mit dem EU-Beitritt der Osteuropäer galt?

Ritzen: In den Niederlanden hat deswegen kein Arbeitnehmer seinen Job verloren, und in Deutschland wird das, glaube ich, auch nicht der Fall sein. Viele Arbeitskräfte kommen nur für eine bestimmte Zeit, es gibt mehr Wanderarbeiter, aber natürlich auch dauerhafte Zuwanderung.

Was überwiegt bei offenen Grenzen: die Probleme durch die Zuwanderung oder der Nutzen?

Ritzen: Für die Niederlande, die wie Deutschland von einer zunehmenden Alterung der Bevölkerung betroffen sind, bedeutete die Zuwanderung eine echte Verjüngung, eine Blutauffrischung. Diese Menschen kurbeln die Wirtschaft an, sie bereichern mit ihrem Fleiß und ihren Kenntnissen die Volkswirtschaft. Auf der anderen Seite darf man die Probleme nicht verschweigen: Es kommen auch Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen. In Den Haag zum Beispiel gibt es deshalb ein großes Problem mit ausländischen Obdachlosen. Unterm Strich ist die Bilanz der Freizügigkeit aber sehr positiv.

Können Sie die Befürchtungen vieler Menschen in dem Zusammenhang nachvollziehen?

Ritzen: Man muss die Ängste natürlich ernst nehmen. Aber Deutschland ist immer ein Land gewesen, in das es Zuwanderung gegeben hat – und aus dem viele Menschen auch ausgewandert sind. Einer meiner Großväter übrigens auch.

Trotzdem ist ja nicht wegzudiskutieren, dass viele Menschen die neuen Arbeitskräfte vor allem als Konkurrenten sehen. Gibt es Wege, die Beschäftigten zu schützen?

Ritzen: Die Erfahrung aus den Niederlanden zeigt, dass es nur wenig Verdrängung gibt. Für die Jobs, die die Polen oder Rumänen erledigen, gibt es keine einheimischen Bewerber.

Zum Beispiel?

Ritzen: Bei uns arbeiten viele Polen auf dem Bau. Das sind Fachkräfte, die es in den Niederlanden nicht mehr gab. Wegen denen hat kein Holländer seinen Job verloren.

Und in den Fällen, in denen es doch eine Konkurrenzsituation gibt?

Ritzen: Weiterbildung, Weiterbildung, Weiterbildung. Die eigene Qualifikation weiterentwickeln, ist das beste Rezept. Schwierig wird es allerdings bei Menschen, die generell keine Beziehung zu Schule und Bildung haben. Da gibt es keine einfachen Lösungen. Wobei wir es bei dieser Gruppe nicht mit einem spezifischen Problem der Freizügigkeit in der EU zu tun haben, sondern eher mit dem allgemeinen Problem der Globalisierungsverlierer.

Wäre ein gesetzlicher Mindestlohn ein Weg, um eine Abwärtsspirale bei den Löhnen aufzuhalten?

Ritzen: Ich meine, dass man durchaus in diese Richtung denken sollte. Man darf aber nicht übersehen, dass Mindestlöhne auch Jobs kosten können. Falls bestimmte Tätigkeiten sich nicht rechnen mit einem allgemeinen Mindestlohn, müsste die Gesellschaft einspringen.

Zum Beispiel über Lohnsubventionen?

Ritzen: Genau. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, Globalisierungs- und Modernisierungsverlierern eine Perspektive zu bieten. Die Risiken sind dabei auch klar: Noch mehr Bürokratie und Mitnahmeeffekte. Aber wir verlieren einfach zu viele Menschen, die das Tempo nicht mehr mitgehen können. Das sind übrigens die selben Leute, die Angst haben vor Zuwanderung und ausländischer Konkurrenz.

Wird es eine Welle von Zuwanderern geben?

Ritzen: Nein. Die Erfahrungen in den Niederlanden, aber auch in Großbritannien oder Frankreich nach der EU-Erweiterung 2004 sprechen dagegen. Außerdem: Viele der mobilen Arbeitskräfte sind längst da: als befristete Arbeitnehmer oder als Schwarzarbeiter. Insgesamt rechne ich nicht mit einer großen Zuwanderung.


Reprinted with permission.

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