Auch der Sozialstaat braucht Wettbewerb

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September 08, 2005, Hamburger Abendblatt

(Gastbeitrag von Klaus F. Zimmermann)
 

Serie: Sieben Denker zeigen im Abendblatt Probleme und Lösungen zukünftiger Politik auf - Folge 5. Der Staat muß private Verantwortung aktivieren, nicht gängeln, schreibt der Volkswirt Klaus F. Zimmermann. Zur Wahl am 18. September hat das Abendblatt sieben Persönlichkeiten um Analysen und Perspektiven gebeten. Weitere Autoren: der Politologe Christian Hacke und Bischof Wolfgang Huber.

Im Sommer 2005 ist der deutsche Wähler in einem vertrackten Dilemma verfangen. Er ist unzufrieden mit den Reformanstrengungen einer rot-grünen Bundesregierung, die nach manchen Irrungen und Wirrungen einen Sanierungskurs für die deutsche Wirtschaft begonnen hat, der jetzt vielen als zu neoliberal erscheint. Er setzt zögernd auf eine Opposition, die noch konsequentere Reformen verspricht, ohne sachlich Neuland zu betreten. Die Situation ist paradox, da die kritische Lage der deutschen Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten unter der Verantwortung der jetzigen Opposition entstanden ist, wobei die jetzigen Regierungskräfte wesentliche der damaligen Fehler mitgetragen haben.

Die Reformen der Regierung Schröder markieren allerdings einen Wendepunkt in der deutschen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, deren große Bedeutung erst langfristig erkannt, weil wirksam werden wird. Wegmarken der Arbeitsmarktpolitik sind die präventive Orientierung der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, das Bekenntnis zu ihrer wissenschaftlichen Evaluation und die Priorisierung der Arbeitsagentur auf Vermittlung, intensivere Kontakte zur Wirtschaft, die Verstärkung der Anreize zur Arbeitsaufnahme und den Abbau unnützer Förderprogramme. Elementar ist auch die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe mit einer Orientierung an einer Arbeitsaufnahme bei Beschäftigungsfähigkeit. Dazu kamen Steuersenkungen, das Zuwanderungsgesetz, Liberalisierungen durch eine Öffnung der Ladenschlußzeiten und der Handwerksordnung sowie eine Rehabilitierung der Hochschuleliten.

Ein Schelm, wer kurzfristig Wunder erwartet hatte. Der Erfolg wird sich erst nach Jahren der effektiven Umsetzung der Maßnahmen und durch Wirtschaftswachstum einstellen, wenn der Reformprozeß konsequent fortgesetzt wird. Dies muß von strukturellen Öffnungen in den Produkt- und Arbeitsmärkten begleitet werden, an denen gering Qualifizierte beteiligt sind, denn sie sind die Träger des Arbeitslosigkeitsproblems. Erst dann ist eine Halbierung der Arbeitslosenquote innerhalb eines Jahrzehnts prinzipiell möglich.

Letztlich steht das Selbstverständnis unserer sozialen Marktwirtschaft auf dem Prüfstand. Fragen der Gerechtigkeit und der effizienten Nutzung volkswirtschaftlicher Ressourcen müssen künftig strikter getrennt und so transparent gemacht werden. Die Wertschöpfung muß Priorität über die Frage bekommen, wie das Produzierte gerecht verteilt wird. Chancengerechtigkeit kommt vor Verteilungsgerechtigkeit. Gesellschaftliche Solidarität und Eigenverantwortung brauchen eine neue, verträgliche Balance. Wer Solidarität fordert und erhält, muß seinerseits die Bereitschaft zur Gegenleistung mitbringen.

Wir brauchen einen starken Staat. Aber er muß private Verantwortung und Initiative aktivieren, nicht abwürgen und gängeln. Nur durch weniger und leistungsfähigeres Personal kann der Staat finanziell schlanker werden und die öffentlichen Haushalte sanieren.

Ein radikaler Subventionsabbau in Verbindung mit einer Mehrwertsteuererhöhung würde den nötigen Spielraum für Steuervereinfachungen, eine Senkung der Lohnnebenkosten und die Finanzierung neuer staatlicher Leistungsschwerpunkte schaffen. Langfristiges Ziel einer "großen" Steuerreform sollte die Rückführung direkter zugunsten indirekter Steuern sein.

Die Mehrwertsteuer beteiligt alle Bevölkerungsschichten an den gesellschaftlichen Aufgaben. Sie kann sozial differenziert werden, und sie läßt die für einkommensschwache Haushalte so wichtigen Mietausgaben unbelastet. Ersparnisse, Humankapitalbildung und Exporte werden von ihr verschont. Dagegen trifft sie die Importe, die zu einheimischer Produktion in Konkurrenz stehen, den Konsum, der aus Einkommen in der Schattenwirtschaft getätigt wird, und die Rentnerhaushalte, die stärker zur Umfinanzierung der sozialen Sicherungssysteme beitragen müssen. Insoweit sprechen für eine höhere Mehrwertsteuer Argumente der staatlichen Einnahmeerzielung, der Umverteilung sowie der Stimulierung von Wirtschaftswachstum.

Deutschland wendet notorisch zuwenig staatliche Mittel für Forschung, Bildung und staatliche Infrastruktur auf. Dies ist ein Wachstumsblocker in einem Hochlohnland, das seinen wirtschaftlichen Spitzenplatz ohne wesentliche Naturressourcen nur durch die Ressource Humankapital erhalten kann. Die nötigen finanziellen Spielräume müssen deshalb in den öffentlichen Haushalten rasch durch Umschichtungen gewonnen werden.

Die sozialen Sicherungssysteme müssen insgesamt "entfesselt" und in den größtmöglichen Wettbewerb entlassen werden. Bei der Rente wird kein Weg an einer deutlichen Verlängerung der Lebensarbeitszeiten und an Modellen privater Vorsorge vorbeiführen. Die Bedeutung der kapitalgedeckten Rente muß weiter zunehmen. Es wird sich als zwingend erweisen, dies als Pflichtversicherung zu organisieren, ohne daß das vorherrschende Umlageverfahren abgelöst werden kann.

Die bislang getroffenen Maßnahmen werden allerdings nicht ausreichen, um die Beitragssätze auf dem ohnehin hohen heutigen Niveau zu stabilisieren. Zwar wurde mit der Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors für künftige Rentner bereits eine Kürzung der Leistungen um 15 Prozent vorgenommen. Doch erfordert eine Stabilisierung noch eine weitaus stärkere Absenkung des Rentenniveaus. Wenn dies nicht gewollt wird, bleibt nur die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Da auch die vorgeschlagene Rente mit 67 nicht ohne weitere Beitragssatzsteigerungen auskäme, erscheint eine Anhebung des Renteneintrittsalters auf 70 nur konsequent. Eine ständig steigende Lebenszeit macht diese Lösung akzeptabel. Sie würde erst längerfristig akut und könnte die jüngere Generation wirksam entlasten.

Unser Arbeitsmarkt würde das nicht nur verkraften, sondern es wäre für ihn sogar hilfreich. In anderen Ländern, wo die Menschen länger arbeiten, ist die Altersarbeitslosigkeit tendenziell geringer als in Deutschland. Zudem herrscht schon heute in einigen Bereichen Fachkräftemangel. Weil dieser Mangel weiter zunimmt, werden es sich die Betriebe nicht mehr leisten können, erfahrene und leistungsfähige Alte früh in Rente zu schicken.

Die gesetzliche Pflegeversicherung wurde vor wenigen Jahren völlig falsch als Umlageverfahren organisiert und steuert auf ein Fiasko zu. Hier muß rasch ein kompletter Umbau zu einem kapitalgedeckten, privatwirtschaftlichen Modell erfolgen, bevor es zu spät ist. Ebenso unverzichtbar ist das Gesundheitsprämienmodell zur Abkoppelung der Finanzierung des Gesundheitssystems vom Faktor Arbeit und seine wettbewerbliche Organisation. Ausschließlich private, im Wettbewerb stehende Krankenkassen sollten verpflichtet werden, allen Bürgern eine staatlich regulierte Grundversorgung anzubieten. Zusatzversorgungen liegen im individuell zu finanzierenden Ermessen des Einzelnen. Alle Versicherten zahlen eine einheitliche Prämie, die Beiträge für Kinder und den sozialen Ausgleich werden aus Steuern finanziert.

Bei der Reform der Arbeitsmarktpolitik ist ein langer Atem erforderlich. Die Reformmaßnahmen brauchen Zeit und müssen sorgfältig evaluiert werden. Hektische Reformen der bereits durchgeführten Reformen wären falsch, sinnvoll ist allerdings das Nachdenken über einen fundamentalen Neuanfang: Eine reine Versicherungsagentur regelt die Leistungen der Arbeitslosenversicherung für Kurzzeit-Arbeitslose, die wahrscheinlich aus eigener Kraft in den Arbeitsmarkt zurückfinden. Eine restrukturierte Bundesagentur für Arbeit kümmert sich nach einem Profiling der neuen Arbeitslosen um potentielle Problemfälle, überwiegend Menschen ohne Berufsausbildung und Ältere. Die Kommunen mit ihrer Kenntnis der lokalen Gegebenheiten übernehmen schließlich die Betreuung und Vermittlung von Langzeitarbeitslosen. Dem Transferbezug steht dabei die Pflicht zur Gegenleistung in Form sozial nützlicher Arbeit gegenüber. Dies fördert die Bereitschaft zur Annahme angebotener Arbeitsplätze.

Nicht zuletzt sind aber Impulse zur Erneuerung der Wirtschaft nötig. Nicht der Staat, sondern die Privatwirtschaft hat den Schlüssel zur Vollbeschäftigung. Allerdings schafft öffentliches Handeln wichtige Rahmenbedingungen und kann funktionsunfähige Märkte aktivieren. Eine längere Arbeitszeit ohne Lohnausgleich könnte Impulse liefern. So kann der Fachkräftemangel bekämpft, einfache Arbeit preiswerter werden. Zukunftsträchtige Wirtschaftssektoren wie Bildung und Weiterbildung, Innovationen und Forschung, Gesundheit, Betreuung und haushaltsnahe Dienste müssen durch Marktprozesse gestärkt werden. Ein System von Bildungs- und Kinderbetreuungsgutscheinen ist dabei ebenso sinnvoll wie die Abschaffung des Zivildienstes, ein verändertes Stiftungsrecht zur Stimulation privatwirtschaftlich geförderter Wissenschaft und die Einrichtung von Agenturen zur gezielten Koppelung von Angebot und Nachfrage im Bereich einfacher Serviceangebote. Auch die Bio- und Gentechnik und die Nanotechnologie bedürfen größerer Aufmerksamkeit.


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