Flexibler, offener, bescheidener. Die deutschen Gewerkschaften müssen ihre Rolle neu definieren

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July 15, 2003, Financial Times Deutschland

(Gastbeitrag Klaus F. Zimmermann)
 

Weg vom falsch verstandenen allgemeinpolitischen Mandat und hin zu offenen Tarifverträgen

Die deutsche Öffentlichkeit verfolgt gebannt den Tanz der Totengräber der Gewerkschaftsbewegung. Die ehemals mächtigste Einzelgewerkschaft der Welt, die IG Metall, verbeißt sich in einen Richtungsstreit und taumelt führungslos in eine unsichere Zukunft. Ihre historische Niederlage im Kampf um die Einführung der 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland hat die Decke vom Verhandlungstisch der Geschichte gezogen, unter der sich seit langem eine Fülle ungeklärter Fragen versteckt hielt. So verbirgt sich hinter der simplen Auseinandersetzung "Peters oder nicht" viel mehr als ein personalpolitischer Eiertanz. Es ist eine Stellvertreterdebatte über die Zukunft der Gewerkschaftsbewegung überhaupt.

Die traditionelle Macht der Gewerkschaften beruht auf der Tarifautonomie, ihrer tiefen Vernetzung mit den Entscheidungsstrukturen der Unternehmen durch die Betriebsräte und ihrem allseits akzeptierten Anspruch auf allgemeine politische Vertretung ihrer Mitglieder. Der Gesetzgeber hat den Tarifvertragsparteien die Gestaltung der Arbeitswelt weitgehend übertragen, obwohl das Wohl und Weh jeder Regierung erheblich davon abhängt. Die Politik nimmt gleichzeitig hin, dass die Gewerkschaften, wie alle Lobby-Verbände, politisches Handeln auf allen Ebenen mitgestalten wollen. So sind Kindererziehung und Renten ebenso Operationsfeld wie Löhne und Arbeitszeiten. Ein Aufsichtsrat, der den Vorstand kontrolliert, kann gleichzeitig Streikführer gegen das Unternehmen sein. Solche Widersprüche sind ganz erstaunlich.

Allerdings wirken seit einiger Zeit viele Trends gegen die Gewerkschaften. Vieles davon gilt auch international. Während ihre Visionen immer noch die Modellrolle des Arbeiters im Industriebetrieb umkreisen, der wirtschaftlich und politisch unmündig erscheint, hat sich das wirtschaftliche und politische Umfeld gewaltig gewandelt. Der Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft verändert die Spielregeln gründlich. Die Mehrzahl der Arbeitnehmer unterliegt nicht mehr dem traditionellen Arbeitszeitmodell und ihre Bereitschaft zu streiken schwindet. Hinzu kommt der demographische Wandel und die Alterung der Erwerbsbevölkerung. Das reduziert die Zahl der konfliktbereiten Jungen, die zudem infolge der Individualisierung kaum noch gewerkschaftlich zu organisieren sind.

Das öffentliche Ansehen der Gewerkschaften schwindet, die Mitgliederzahlen erodieren, und ihr politischer Einfluss zerbröselt. Das Scheitern des gewerkschaftlichen Widerstands gegen die Reformagenda 2010 in Deutschland und die Rentenreform in Frankreich zeigt dies deutlich. Die Politik will und kann sich des allgemeinpolitischen Mandats der Gewerkschaften entledigen. Dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, dass zur Lösung der Arbeitsmarktprobleme auch die überbetrieblichen und betrieblichen Institutionen auf den Prüfstand gelangen. Flächentarifvertrag und Mitbestimmung finden sich somit unverhofft in der Mitte der Reformdiskussion.

Der Flächentarifvertrag ist das nächste Operationsfeld. Er ist im Osten durch mangelnde Akzeptanz ohnehin bereits weitgehend wirkungslos und wurde durch die Verhandlungsniederlage der IG Metall weiter geschwächt. Dies könnte zum Problem werden, denn er kann eine Fülle wirtschaftlicher Vorteile entfalten. Er bringt für die Unternehmen Planungssicherheit und spart die höheren volkswirtschaftlichen Kosten der betrieblich organisierten Lohnfindung. So können auch gesamtwirtschaftliche Argumente in die Verhandlungen einfließen, die auf betrieblicher Ebene ignoriert werden. Auch ist wahrscheinlich die Streikhäufigkeit deutlich höher, wie wir aus der Praxis anderer Länder vermuten dürfen, wenn die zentralen Lohnverhandlungen aufgegeben werden.

Die Gewerkschaften werden weiter gebraucht. Sie müssen ihre Rolle aber neu definieren und sich Ziele suchen, die im Einklang mit wirtschaftlicher Vernunft stehen. Dazu gehören die Rückkehr zu längeren und vor allem flexibleren Arbeitszeiten und niedrigere Mindestlöhne für gering Qualifizierte. Auch dürfen sie ihr allgemeinpolitisches Mandat nur noch eingeschränkt nutzen. Der Flächentarifvertrag wird nur überleben, wenn betriebliche Öffnungsklauseln eingeführt werden und die Gewerkschaften auf die Allgemeinverbindlichkeitserklärung verzichten, die Abschlüsse auch auf unorganisierte Unternehmen überträgt. Dann könnten betriebliche Vereinbarungen den Tarifvertrag dominieren und nicht länger umgekehrt.

Sonst ist eine Minimallösung auch ohne Gewerkschaften denkbar: Lohnleitlinien, die sich an der Produktivitätsentwicklung und einem Ausgleich für unvermeidbare Preissteigerungen orientieren, würden von einem unabhängigen Expertengremium formuliert und ersetzen den Flächentarifvertrag. Betriebliche Regelungen könnten dies dann in alle Richtungen modifizieren.


Reprinted with permission.

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