Freiheit in Gefahr

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June 25, 2015, Handelsblatt

(Op-ed by Klaus F. Zimmermann)

Die Flüchtlingspolitik der EU darf sich nicht an Ressentiments orientieren, sagt Klaus F. Zimmermann.
 

Ist die Idee der Freiheit noch Leitmotiv der europäischen Politik? Die aktuelle Debattenlage stimmt bedenklich. Zwar hätte Europa allen Grund, das 30-jährige Jubiläum jenes "Schengen-Abkommens" zu feiern, das zum Abbau der Grenzkontrollen an seinen Binnengrenzen führte. Doch just zu diesem Zeitpunkt werden Stimmen laut, die dieses System "auf den Prüfstand" stellen wollen oder gar eine "Auszeit" von dem Abkommen fordern - zuletzt aus Bayern und Sachsen.

Ungarn, das bereits die Meinungsfreiheit und andere Grundrechte eingeschränkt hat, hat soeben einseitig wichtige EU-Vereinbarungen zur Aufnahme von Flüchtlingen außer Kraft gesetzt mit der populistischen Begründung, das Boot sei voll. Eine noch größere Herausforderung kommt aus Großbritannien. Premier Cameron will Ernst machen mit der Begrenzung der Zuwanderung von EU-Ausländern, indem Migranten aus anderen EU-Ländern mehrere Jahre von Sozialleistungen ausgeschlossen werden sollen.

Wer das Prinzip der Freizügigkeit derart infrage stellt, es gegen den Sozialstaatsgedanken ausspielt, will ein anderes Europa. Er hebelt den Binnenmarkt aus, der auf freiem Personenverkehr, Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie Niederlassungsfreiheit beruht. Vergessen wird, dass Europas kultureller wie ökonomischer Reichtum Ergebnis seiner vielfältigen ethnischen Wurzeln und seiner Migrationsgeschichte ist. Die Argumente aus London gegen "Sozialmissbrauch'" in der Zuwanderungspolitik sind ebenso falsch wie jene aus München gegen offene Grenzen aus vorgeblichen "Sicherheitsgründen".

Wenn Europas Regierungschefs morgen und übermorgen in Brüssel auch über die britischen Forderungen beraten, sollten sie David Cameron gegenüber fest bleiben und deutlich sagen: Großbritannien profitiert ebenso wie andere Länder von der europäischen Arbeitsmobilität. Das Unwort vom "Sozialtourismus", das leider vielerorts ein Echo findet, wird von den objektiven Fakten kaum gedeckt. Vergleichende europäische Studien zeigen: Es gibt kaum Anzeichen für übermäßige Inanspruchnahme von Sozialleistungen von Migranten im Vergleich zu Einheimischen. Viel eher zeigt sich: Zuwanderer stützen insgesamt die Sozialsysteme, sie zahlen mehr ein, als sie zurückerhalten.

Dem Missbrauch schieben im Übrigen die EU-Verträge einen Riegel vor. Wer dennoch Zweifel hat, kann bei den Gerichten und letztlich beim Europäischen Gerichtshof Schutz suchen - dafür ist keine Änderung der EU-Verträge erforderlich. Richtig und notwendig ist vielmehr eine, die noch vorhandene Mobilitätsbarrieren europaweit abbaut. Es gibt in Europa nicht zu viel, sondern zu wenig Binnenmobilität. Zu viele Hemmnisse existieren noch, angefangen beim Sozial- und Steuerrecht bis zur Anerkennung beruflicher Qualifikationen. Es fehlt an Sprachkenntnissen wie an besseren Job-Informationen.

Ein Programm für mehr Freizügigkeit wäre gerade jetzt ein wichtiges Signal: Europa steht zu jener Idee der Freiheit, die einmal Leitgedanke der "Europabewegung" war. Luxemburg, das Land des Schengen-Abkommens, sollte dazu, wenn es am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, die Initiative ergreifen.


Reprinted with permission.

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