Die Menschen wollen arbeiten - sonst gehen sie

Logo
April 23, 2011, Stuttgarter Zeitung

(Interview mit Klaus F. Zimmermann)
 

Der Arbeitsmarktexperte Klaus Zimmermann erwartet in Deutschland keinen Zustrom von Bürgern aus den osteuropäischen Ländern, die 2004 der EU beigetreten sind. Die vielbeschworene Auswanderung in die deutschen Sozialsysteme wird aus Sicht des Ökonomen ausbleiben - allerdings ebenso der Zuzug von qualifizierten Arbeitskräften. Vor Jahren hat die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland für die osteuropäischen EU-Neulinge zum 1. Mai 2011 Ängste ausgelöst. Warum sich die Stimmung gedreht hat, erläutert der Ökonom Klaus Zimmermann, Chef des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA).

Herr Professor Zimmermann, das Ifo-Institut hat vor einigen Jahren errechnet, dass die Herstellung der vollen Freizügigkeit mittelfristig einen Zuzug von insgesamt 2,5 Millionen Menschen nach Deutschland bedeuten wird. Ist das realistisch?

Das ist unrealistisch hoch, die Entwicklung wurde von Anfang an überschätzt. Es wird immer in den Vordergrund gestellt, dass Menschen zuziehen. Es gibt aber auch eine erhebliche Zahl von Menschen, die gleichzeitig wegziehen - und zwar in einer ähnlichen Größenordnung. Die Natur der Arbeitsmarktmigration wird bei uns teilweise völlig missverstanden. Ein Großteil der Menschen aus den Beitrittsländern will sich keineswegs dauerhaft hier niederlassen. Es ist deshalb überhaupt nicht damit zu rechnen, dass Millionen Menschen kommen und dann auch bleiben. Die meisten Migranten aus den neuen Beitrittsländern in Europa kommen aus Polen. Im bei weitem größten und von Anfang an offenen Aufnahmeland Großbritannien sind 2004 etwa 150 000, im Jahr 2007 dann 690 000 und 2009 nur noch 555 000 Polen gewesen. Wenn sich jetzt davon ein Teil nach Deutschland orientiert, führt das zu keiner Massenmigration.

Welche Arbeitnehmer werden nach Deutschland kommen? Werden tatsächlich Fachkräfte kommen, wie zum Beispiel Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen hofft?

Es mag sein, dass Pflegekräfte - also Fachkräfte im weiteren Sinn - oder auch Handwerker kommen. Aber es ist unwahrscheinlich, dass wie erhofft die höher qualifizierten Fachkräfte nach Deutschland zuwandern. Die Polen bilden im Augenblick zwar sehr viele Ingenieure aus, aber wegen unserer restriktiven Politik suchen sich die Leute andere Länder aus. Das war schon gleich nach der Ostöffnung vor sieben Jahren so. Weil wir dichtgemacht haben, sind die Qualifizierten nach England gegangen. Eine Rolle hat auch gespielt, dass die Englischkenntnisse der jungen Polen wesentlich besser sind als ihre Deutschkenntnisse.

Trotzdem gab es einen erheblichen Zuzug aus Osteuropa.

Ohne diesen Zuzug wäre unsere Bevölkerung schon viel früher geschrumpft. Wir sind im Augenblick ein Auswanderungsland. Unser Problem ist, dass wir die richtigen Leute nicht bekommen. Die Qualifizierten sind woanders, und die Geringqualifizierten sind da, zum großen Teil illegal. Realistisch gerechnet werden jetzt zunächst maximal zwischen 50 000 und 150 000 Menschen im Jahr kommen. Meine Erwartung ist aber eher, dass sich durch die formale Freizügigkeit ab 1. Mai im Prinzip eher nichts tun wird.

Ändert sich folglich auch auf dem Arbeitsmarkt nichts?

Das bewegt sich alles im Promillebereich. Der Strom ist einfach zu klein. Die Auswirkungen müssen im Übrigen keineswegs negativ sein, sondern können zu Wohlstand und Beschäftigung beitragen.

EU-Sozialkommissar Lászlã Andor hat vor wenigen Tagen vorausgesagt, dass durch die Öffnung des Arbeitsmarktes in Deutschland Schwarzarbeit und Scheinselbstständigkeit zurückgehen könnten.

Viele Osteuropäer, gerade Polen, sind über die Schiene Selbstständigkeit ins Land gekommen; das war legal. Jetzt kann man sich umorientieren. Ob die Schwarzarbeit, die ja profitabel ist, wesentlich zurückgeht, kann aber bezweifelt werden.

Vor Jahren gab es die Befürchtung, dass die Menschen aus den Beitrittsländern sozusagen direkt in die Sozialsysteme einwandern oder aber einheimische Beschäftigte verdrängen, die dann ein Fall für den Sozialstaat werden. Von diesen Sorgen ist jetzt kaum noch etwas zu hören. Warum?

Da gibt es europaweite Untersuchungen mit einem ganz klaren Befund: Die Menschen aus den Beitrittsländern wandern nicht in die Sozialsysteme aus. Sie kommen, um zu arbeiten. Und wenn sie keine Arbeit haben – legal oder illegal –, dann gehen sie woanders hin. Alle Befürchtungen, die auch immer wieder von der Politik geäußert werden, sind ohne jede empirische Basis.

Das Durchschnittsgehalt in Polen ist in den vergangenen fünf Jahren um ein Drittel gestiegen, und die Arbeitsbedingungen haben sich verbessert; vielfach werden Fachkräfte gesucht. Gibt es überhaupt einen Grund, das Land zu verlassen?

Kaum. Denn alles, was in Deutschland passiert, geschieht auch in Polen. Die Gesellschaft altert, Fachkräfte werden knapp und begehrt. Wesentlich ist im Übrigen ja nicht nur das Einkommen, sondern auch das, was man damit machen kann; die Lebenshaltungskosten sind ganz entscheidend. Nimmt man alles zusammen, dann ist es auch schon jetzt nicht so viel ungünstiger, in Polen zu leben, als hier.

Wie groß ist das Fachkräftepotenzial in den Beitrittsländern? Lohnt es sich für Betriebe, selbst auf Werbetour zu gehen, oder sollte die Bundesagentur für Arbeit tätig werden?

So etwas jetzt staatlich zu organisieren wäre schwierig, nachdem man den Arbeitsmarkt sieben Jahre lang zugehalten hat. Das würde in den Beitrittsländern besonders schlecht ankommen. Was man in den sechziger Jahren mit den Anwerbestellen in den südeuropäischen Ländern gemacht hat, lässt sich so nicht wiederholen. Aber für die Firmen selbst würde sich eine Werbetour lohnen. Vor allem in den technischen Berufen gibt es viele junge Leute, die wahrscheinlich zumindest für einige Jahre hierherkommen würden.

Wird der Trend der heimischen Industrie zu Investitionen in Tschechien oder Polen jetzt gebremst? Womöglich fehlen vor Ort bald die qualifizierten Beschäftigten.

Die Ostöffnung ist eher ein politisches Symbol, das für die Beitrittsländer ungeheuer wichtig ist. Die deutschen Unternehmen haben ihre Entscheidungen längst getroffen und wahrscheinlich bereits berücksichtigt, dass es langfristig auch in Polen mit den Fachkräften schwierig ist, weil die Bevölkerung schrumpft. Gegenwärtig ist zu beobachten, dass polnische Unternehmen jetzt verstärkt in Deutschland aktiv werden und investieren.

Deutschland hatte viele Jahre Zeit und hat mehrfach die Schutzklausel in Anspruch genommen, damit die Arbeitnehmerfreizügigkeit erst zum 1. Mai 2011 hergestellt werden muss. Ist diese Frist zur Vorbereitung genutzt worden?

Ich habe die Nutzung der Schutzklausel immer für falsch gehalten. Abgesehen davon kann von Vorbereitung auf den Termin 1. Mai überhaupt keine Rede sein. Es wurden noch nicht einmal die Gesetze angepasst. Ich hoffe, dass wenigstens die Arbeitsverwaltungen Bescheid wissen und künftig auf eine Prüfung verzichten. Wir sind insgesamt genauso ratlos wie vor sieben Jahren. Wir haben unsere Position als Land Nummer eins bei Fachkräftewanderungen an England verloren. Vor 2004 hatte England kaum Menschen aus Osteuropa im Land; jetzt liegen sie vor uns an der Spitze. Das wird uns langfristig wirtschaftlich schaden, zumal diese Märkte ja direkt vor unserer Haustüre liegen.

Haben die Schutzklauseln überhaupt gewirkt, oder sind sie umgangen worden? Man denke nur an die vielen selbstständigen Fliesenleger und die Arbeitnehmer, die mit sogenannten Werkverträgen in norddeutschen Schlachtbetrieben gearbeitet haben.

Die Zahl der Selbstständigen aus Polen in Deutschland hat sich innerhalb weniger Jahre verdoppelt. Ob einem das nun gefällt oder nicht: das waren politisch geduldete Mittel, um die Begrenzung der Freizügigkeit zu umgehen. Es wäre besser gewesen, die Märkte gleich zu öffnen, dann wären solche Fehlentwicklungen unterblieben.

Ende 2013 fallen auch für Rumänien und Bulgarien die Schranken. Lassen sich aus den aktuellen Erfahrungen noch Konsequenzen für diese beiden Länder ziehen?

Die Rumänen und Bulgaren haben in besonderer Weise reagiert; sie sind in Europa sehr mobil – und zum Beispiel als Selbstständige nach England gegangen. Spanien war allerdings das bevorzugte Zielland. Da die Übergangsregelungen nichts gebracht haben, wäre ich dafür, sie per 1. Mai 2011 auch für Bulgarien und Rumänien abzuschaffen –auch wenn es politisch dafür sicher zu spät ist.

Sie haben in der Vergangenheit vielfach eine Reform des Zuwanderungsrechts gefordert. Finden Sie in der Politik Gehör mit Ihrem Anliegen?

Hinter verschlossenen Türen wird sicher über dieses Thema vermehrt gesprochen, aber die Politik sieht weiterhin das Vermittlungsproblem, also die Schwierigkeit, die Wähler davon zu überzeugen, dass nicht jeder Einwanderer eine Bedrohung für den Arbeitsmarkt ist. Hoffnung machen Umfragen, dass 60 Prozent der Bundesbürger eine qualifizierte Zuwanderung begrüßen.

Wie könnte so ein modernes Zuwanderungsrecht aussehen? Ein Punktesystem, so wie es die Österreicher eingeführt haben?

Das wurde ja auch in Deutschland diskutiert, und ich selbst propagiere das seit langem. Ein Punktesystem ist dann sinnvoll, wenn es um Daueraufenthalt geht. Es wäre ein wichtiges Signal, und es würde uns international als ein Land, das offen ist, etablieren. Viele Länder haben schon so ein System, wir sind da international einfach hintendran.

Was halten Sie von der europäischen "Bluecard", die qualifizierten Bewerbern aus Drittstaaten den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erleichtern soll? Die Richtlinie soll bereits bis Mitte Juni umgesetzt werden.

Die Idee der "Bluecard" ist gut, weil sie auf einen einheitlichen Arbeitsmarkt zielt. Wer in einem Land aufgenommen wird, sollte ins nächste Land der Europäischen Union weiterziehen können. Aber die Länder wollen sich vorbehalten, die konkreten Bedingungen zu definieren, unter denen der "Bluecard"-Halter weiter zur Arbeit wandern kann. Ich sehe da noch eine Menge Umsetzungsschwierigkeiten – auch in Deutschland, wo wieder einmal auf Verzögerungstaktik gesetzt wird.

Das Gespräch führte Michael Heller.


Reprinted with permission.

Back