Warum Mehrarbeit gerecht ist

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27. August 2004, Neues Deutschland

(Gastbeitrag Klaus F. Zimmermann)
 

In Zeiten üppiger Wohlstandssteigerungen wurde es üblich, einen Teil des möglichen Einkommenszuwachses zu Arbeitszeitverkürzungen zu nutzen. Dies entsprach dem individuellen Wunsch vieler hart arbeitender Menschen vor allem in den industriellen Wirtschaftsprozessen und wurde durch Produktivitätssteigerungen erleichtert, die gering qualifizierte Arbeit leicht ersetzbar machte. Höhere Löhne, steigender Wohlstand und Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich waren möglich.

Dramatisch veränderte Rahmenbedingungen

Seit einiger Zeit aber haben sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dramatisch verändert. Die weltweite Arbeitsteilung und technischer Fortschritt machen immer mehr Arbeitskräfte im geringeren Qualifikationsbereich überflüssig. Die Arbeitszeitverkürzung findet jetzt ohne Lohnausgleich statt, indem viele Menschen arbeitslos werden. Qualifizierte Tätigkeiten werden dagegen immer gefragter und werden zusehends besser entlohnt. Diese Jobs werden für die arbeitenden Menschen mehr und mehr zur Lebenserfüllung, aus »Arbeitsleid« wird Identifikation und Bestätigung im Beruf. Unbezahlte Mehrarbeit wird mehr und mehr zur Selbstverständlichkeit. Als Folge verbreitert sich die Spanne zwischen den Verdienstmöglichkeiten am unteren und oberen Ende der Gesellschaft. Die Verteilungsgerechtigkeit von Arbeit und Einkommen wird dabei immer stärker strapaziert. Die Gerechtigkeitsfrage verlagert sich von der Frage der Einkommensverteilung mehr und mehr auf die Frage einer gerechten Verteilung der Arbeit. Dabei funktioniert eine Politik der Arbeitszeitverkürzung allerdings heute nicht mehr. Sie schafft weniger Wohlstand und sie ist elementar ungerecht, weil sie die Einkommensungleichheit verstärkt. Weniger Arbeitszeit für Geringverdiener bedeutet heute ein noch geringeres Einkommen, da ein Lohnausgleich nicht erfolgen kann. Das stößt bei den Betroffenen auf Widerstand, sie brauchen das Geld. Bei den Besserverdienenden verknappt eine Arbeitszeitverkürzung das ohnehin schon unzureichende Arbeitsangebot. In der Folge führen die Marktkräfte zu einem Anstieg der Entlohnung. Arbeitszeitverkürzung führt deshalb nicht zu mehr Gerechtigkeit, sondern zu einer größeren Ungleichheit. Flexible Mehrarbeit ist deshalb das Gebot der Stunde. Sie hilft auch mit, wieder mehr soziale Gerechtigkeit zu erreichen. Ungelernte Arbeitskräfte haben ein hohes Arbeitslosigkeitsrisiko, über 20 Prozent im Westen und über 50 Prozent im Osten Deutschlands. Diese Zielgruppe am Arbeitsmarkt stellt neben den älteren Arbeitnehmern und Mitbürgern mit fremder Staatsbürgerschaft die eigentlich Benachteiligten unserer Gesellschaft. Gering oder fehl Qualifizierte werden vom Arbeitsmarkt immer konsequenter aussortiert. Arbeitslosigkeit verfestigt sich dann rasch und führt zu weiterer Dequalifikation und dem Verlust an Arbeitsperspektiven. Auch angesichts der weiter zurückgehenden Nachfrage nach diesen Arbeitskräften und der wachsenden Konkurrenz aus ausländischen Arbeitsmärkten kann unbezahlte Mehrarbeit in kritischen Branchen und bedrohten Unternehmen mithelfen, vorhandene Jobs zu retten. Generell unbezahlte Mehrarbeit für dieses Arbeitsmarktsegment reduziert die Arbeitskosten für die Unternehmen. Sie führt dann zu mehr zusätzlicher Beschäftigung, wenn die Wirtschaft wächst und die entsprechenden Güter und Dienstleistungen, die die betroffenen Arbeitnehmer erstellen, verkauft werden können. Es ist auch nur scheinbar gerecht, qualifizierte Arbeitskräfte weniger arbeiten zu lassen. Sie sind bereits knapp und werden vom Arbeitsmarkt dringend gesucht. Dieser Arbeitskräftemangel verhindert mögliche Produktionsausweitungen, die auch zusätzliche einfache Arbeitskräfte beschäftigen könnten. Dies hält die Löhne der besser Verdienenden künstlich hoch. So erscheint es sozial durchaus angemessen zu sein, die Arbeitszeit für besser Verdienende ohne Lohnausgleich auszuweiten. Dadurch verringert sich deren effektive Entlohnung und sie tragen durch ihre zusätzliche Arbeit dazu bei, dass auch geringer Qualifizierte Arbeit finden, die dann in einem optimalen Mix der Produktionsfaktoren mehr benötigt werden. Die relative effektive Einkommensposition der Geringverdiener verbessert sich dadurch.

Jenseits der Aufgeregtheit gesellschaftlicher Debatten

Bei der Diskussion um die Arbeitszeiten sollte deshalb nicht die Frage nach institutionellen Rechtspositionen im Vordergrund stehen, sondern was für die arbeitenden und Arbeit suchenden Menschen wirtschaftlich gut ist. Die Realität geht dabei ohnehin längst über die Aufgeregtheit gesellschaftlicher Debatten hinweg. Die Arbeitszeitverlängerung ist klammheimlich auf dem Vormarsch. Das Instrument der Arbeitszeitkonten, durch das Beschäftigung gesichert wird, indem die Stunden der Mehrarbeit für Zeiten der Unterbeschäftigung aufgespart werden, wird immer mehr genutzt. Überstunden, die weder abgefeiert noch abgegolten werden, nehmen ständig zu. Viele Tarifverträge eröffnen ohnehin Handlungsspielräume für längere Arbeitszeiten. Nach Berechnungen des DIW Berlin mit den Daten des Sozio-ökonomischen Panels haben Vollzeitbeschäftigte 2003, also in einem Jahr der Stagnation, im Durchschnitt typischerweise knapp 43 Stunden in der Woche effektiv gearbeitet. Zwar lag die vereinbarte Wochenarbeitszeit bei 38,4 Stunden, doch wichen die Realitäten davon massiv ab. 56 Prozent der Vollzeitbeschäftigten arbeiteten 40 Stunden und mehr, darunter knapp 20 Prozent mehr als 45 Stunden. Nur knapp 28 Prozent arbeiteten effektiv bis zu 35 Stunden. Gesellschaftliche Solidarität und ökonomische Rationalität müssen sich nicht ausschließen. Tatsächlich funktioniert langfristig das eine nicht ohne das andere. Die Arbeitszeit sollte generell flexibler dem Bedarf am Arbeitsmarkt angepasst werden, weil so Beschäftigung und Wohlstand besser gesichert werden können. Jedenfalls sichert Mehrarbeit ohne Lohnausgleich unter den Fachkräften und Besserverdienenden bei den derzeitigen wirtschaftlichen Bedingungen eine größere Wertschöpfung, den Abbau von Arbeitslosigkeit unter den gering Qualifizierten und eine gerechtere Einkommensverteilung.


Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.

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