Verteidigung der Visionen - Die Politik wirft den Wirtschaftswissenschaftlern ungenügende Beratungstätigkeit vor. Es fehlt in Deutschland jedoch nicht an Rezepten, sondern an der Umsetzung.

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16. Oktober 2003, Financial Times Deutschland

(Gastbeitrag von Klaus F. Zimmermann)
 

Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik ist in Deutschland seit jeher gespannt. Immer wieder haben die Politiker den wissenschaftlichen Beratungsgremien vorgeworfen, sie präsentierten wirklichkeitsfremde Vorschläge, gingen zu wenig auf die Bedürfnisse der Tagespolitik ein und bräuchten zu lange, um Rezepte zu erarbeiten. Es bleibe daher nur der Weg, auf Unternehmensberater und Ad-hoc-Kommissionen aus Wissenschaft und Gesellschaft zurückzugreifen, die näher an akute Problemlösungen herankämen.
Auch bei der jüngsten Tagung der deutschsprachigen Ökonomen des Vereins für Socialpolitik in Zürich waren von einem Mitglied der Bundesregierung wieder ähnliche Töne zu hören. Der Vorwurf, Wissenschaft könne nicht kurzatmig genug sein, trifft hart, geht aber am Ziel vorbei. Forschung muss in langfristigen Perspektiven denken, Visionen ermöglichen erst dauerhafte Lösungen für die zentralen gesellschaftlichen Fragen. Das Problem ist also vielmehr, dass die Politik, gleich welcher Couleur und welcher Entscheidungsebene, beratungsresistent ist.
Da bleibt es natürlich nicht aus, dass sich Wissenschafter einer Beratungsfunktion etwa im Sachverständigenrat oder als Präsident eines Forschungsinstituts verweigern, weil ihr Wort in der praktischen Politik ohnehin keinen Einfluss hat.
Die Forderung nach kurzfristigen Lösungen offenbart ein Politikverständnis, das im Zeitalter globalisierter Rahmenbedingungen kaum noch tragfähig ist: Probleme werden erst angepackt, wenn unbedingt nötig. Die Politik ist deshalb primär an einer zeitnahen Begleitung ihrer nächsten Handlungen interessiert. Unter dem Druck nach raschem Wandel kommt es so zu permanenten Reformen in Trippelschritten. Mit dem Wasser am Hals ist der Ruf nach dem Handwerker verständlich. Möglicherweise wäre das Problem bei rechtzeitigem Einschalten eines Architekten aber vermeidbar gewesen.
Ein gutes Beispiel für die Problemignoranz der Politik ist der demographische Wandel in Deutschland, dessen Folgen für Familienbildung, Arbeitsmarkt, soziale Sicherungssysteme und Wanderungen in der Wissenschaft seit den 70er Jahren ausführlich diskutiert wurden.
Relevante Stellungnahmen dazu verstopfen ganze Bibliotheken. An fertigen Konzepten fehlt es nun wirklich nicht. Dennoch wird beispielsweise die Rentenproblematik noch immer in so kleinen Schritten angegangen, dass die Lösungsansätze bestenfalls bis zum nächsten Wahltag reichen. Man mag einwenden, der Fehler läge wesentlich an der Konsensdemokratie, dem Lobbyismus und den Blockaderechten des Bundesrates. An mangelnden Rezepten der Wissenschaft liegt es jedenfalls nicht.
Richtig an der Kritik ist, dass die deutsche Wissenschaft traditionell eher politikabstinent ist. Ihre Arbeit dient überwiegend der Grundlagenforschung. Richtig ist auch, dass die meisten Dichter und Denker keine guten Handwerker sind. Das schließt jedoch nicht aus, dass Wissenschafter auch bei der Lösung akuter Probleme eine hilfreiche Rolle spielen können. Die eine oder andere Reformkommission in Deutschland hat das durchaus gezeigt.
Es fehlt in Deutschland allerdings generell an mehr interner Beratung durch die Wissenschaft, wie sie etwa in den Vereinigten Staaten beim Council of Economic Advisors, einem Teil der Regierung, stattfindet. Hier wählt der Politiker die Wissenschaftler seines Vertrauens. Sie arbeiten nur solange für ihn, wie politische und wissenschaftliche Visionen übereinstimmen. Eine derartige Form interner Beratung vermeidet häufig jede Öffentlichkeit und kann auch deshalb um so mehr im politischen Tagesgeschäft bewirken.
Wirtschaftspolitische Beratung in Deutschland ist hingegen wegen der Konstruktion der Institutionen durch den Gesetzgeber gewollt weitgehend extern und unabhängig. Daraus folgt eine kritische Distanz zu den Details der Tagespolitik, die die Politik aus wissenschaftlicher Sicht hinterfragt und Verbesserungen einfordert. Ein Großteil der Wirksamkeit der externen Beratung entsteht durch die Kommunikation mit der Öffentlichkeit, die einen wesentlichen Teil des Beratungsauftrages darstellt. Hier hat der Wissenschaftler als Politikberater einen wichtigen Bildungsauftrag über grundsätzliche ökonomische Zusammenhänge. Die externe Beratung setzt die Akzente zu den politischen Handlungsnotwendigkeiten anhand ihrer eigenen Kriterien.
Die Wissenschaft wird eher an der Etablierung von Systemen interessiert sein, die von langfristiger Bedeutung für die Wirtschaft sind. Dazu gehören die Forderungen nach wissenschaftlich überzeugenden Evaluationen von staatlichen Maßnahmen, der Durchführung von sozialen Experimenten zur Ermittlung neuer Programme und die Delegation von politischer Macht an wirtschaftlich kompetente Gremien. Wir brauchen mehr, nicht weniger von dieser nachhaltigen Wirtschaftspolitik, die langfristig überzeugende Lösungen erbringt.


Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.

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