Nach der Reform ist vor der Reform. Die Politik muss strukturelle Veränderungen entschiedener vorantreiben

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28. Juli 2003, Handelsblatt

(Gastbeitrag Klaus F. Zimmermann)
 

Geht dem Reformprozeß schon wieder die Puste aus? Diesem Eindruck konnte man sich letzte Woche angesichts der vorgelegten Gesundheitsreform nicht erwehren. Zwar wurde zwischen Regierung und Opposition ein Kompromiß erreicht, der aber nur zu einer Veränderung der Lastenverteilung im Gesundheitswesen zu Ungunsten der Patienten führen wird. Wieder wurde nur an Details gefeilt, anstatt den Durchbruch zu planen.

Dabei hatte sich der Reformzug in Neuhardenberg so wunderbar in Bewegung gesetzt. Mit der vorgezogenen Steuerreform, durch Privatisierung und temporäre Neuverschuldung finanziert, sollte die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stabilisiert und den wirtschaftlichen Akteuren Mut gemacht werden. Gleichzeitig war vorgesehen, die Reformthemen der sozialen Sicherungssysteme und die Sanierung der Staatsfinanzen konsequent anzupacken. Jetzt verbreitet sich wieder die Erwartung, daß die Halbherzigkeit der Politik zwar Staub aufwirbelt, aber keine tragfähigen Lösungen bringen wird.

So bleibt alles trotz zunehmender Reformrhetorik auf frustrierende Weise mittelmäßig. Da liegt immer noch aus der letzten Legislaturperiode das Zuwanderungsgesetz auf Eis, das Kontrolle, Flexibilität und nötige Fachkräfte für die Belebung des deutschen Arbeitsmarktes bringen soll. Zwar sind viele der Hartz-Reformen für den Arbeitsmarkt im Ansatz beschlossen, aber der Teufel steckt im Detail der Umsetzung bei der Bundesanstalt für Arbeit. Noch immer ist nicht erkennbar, welche Rolle die vielgelobten Personal-Service-Agenturen spielen werden. Nürnberg ist kaum eine seiner Aufgaben losgeworden und soll nun zusätzlich auch für die Betreuung der arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger zuständig werden.

Die Ladenöffnungszeiten sind zwar erweitert worden, aber ein paar zusätzliche Stunden am Samstag können kaum den Durchbruch bringen. Der Streit um die Entschlackung der Handwerksordnung macht deutlich, daß auch die Unternehmer kneifen, wenn es an die Verwirklichung konkreter Reformprojekte geht. Die vorgesehene Lockerung des Kündigungsschutzes ist eher symbolisch, denn wirksam. Beim nötigen Subventionsabbau wird vor allem über verkappte Steuererhöhungen diskutiert: eine Streichung der unsinnig gewordenen Eigenheimzulage, der Entfernungspauschale für Pendler und der steuerlichen Förderung von Überstunden und Nacht- und Feiertragsarbeit. Weiter stünden an: Kohle, Landwirtschaft, Windenergie, Werften und die Töpfe der globalen Förderung Ostdeutschlands.

Die Blockierer unter den Profis der Nation halten die nötigen Reformen des Wirtschaftsprozesses auch auf anderen Ebenen an. Die Beibehaltung von Wehrpflicht und Zivildienst und die Diskussion um ein soziales Jahr für alle sind schädlich. Dabei werden Jobs blockiert, und es wird benötigtes Humankapital vom Arbeitsmarkt ferngehalten. Bürgersinn und Bürgerarbeit muß marktfähig gemacht werden, wenn die Beschäftigungsreserven der Gesellschaft mobilisiert werden sollen.

Nach der Reform ist vor der Reform. Die Reformpolitiker scheinen sich unentbehrlich machen zu wollen. Die Stärke der Regierung im Reformprozeß ist die Schwäche der Opposition. Die Diskussionen der letzten Wochen über Steuern, Gesundheit, Subventionsabbau und Handwerksordnung lassen von anderen Regierungsformationen auch keine konsequentere Reformpolitik erwarten. Das politische System Deutschlands befindet sich also in einer gefährlichen Reformfalle. Nur eine klarere Reaktion des Souveräns, des Volkes, kann hier letztlich weiterhelfen.

Dabei ist die Reformbereitschaft in der Bevölkerung größer, als von der Politik häufig vermutet. Diejenigen politischen Kräfte werden sich langfristig durchsetzen, die ihr Handeln an einer überzeugenden mittelfristigen Vision für die Gesellschaft festmachen können. Eine Reduktion der staatlichen Ausgaben und eine Begrenzung der Kosten in den sozialen Sicherungssystemen und im Arbeitsmarkt ist unvermeidbar. Dies ergibt sich aus den demographischen Veränderungen, die unsere Gesellschaft zunehmend prägen werden, aus der weltweiten Wirtschaftsschwäche wie den Strukturveränderungen bei den Wirtschaftsprodukten und ihrer Erstellung.

Auch die für die Strukturreformen nötige Sparpolitik entzieht dem Wirtschaftskreislauf kurzfristig Nachfrage, kann aber zunächst von einem vorgezogenen, kreditfinanzierten Budgetdefizit zunächst zumindest teilweise ausgeglichen werden. Das Vorziehen der Steuerreform ermöglicht also den sofortigen Beginn mit Strukturreformen, es verhindert ihn nicht. Danach sollten - dank einer besseren weltwirtschaftlichen Entwicklung und wegen der dann die Wachstumskräfte stimulierenden Strukturreformen - für den Reformprozeß keine Gefahren mehr existieren.

Nötig ist, daß sich der Reformprozeß auf die folgenden Elemente konzentriert: Organisation von Wettbewerb soweit möglich in den sozialen Sicherungssystemen, am Arbeitsmarkt und in den Dienstleistungsmärkten, in denen gering qualifizierte Beschäftigte eine Zukunftschance haben. Ein besser ausgewogenes Verhältnis von Eigenverantwortung und gesellschaftlicher Solidarität; dies bedeutet, daß solidarisch nur noch eine Grundversorgung organisiert werden kann, die Restsicherung muß privat betrieben werden. Eine striktere Trennung von Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der effizienten Nutzung der volkswirtschaftlichen Ressourcen; die Anreize müssen so gesetzt werden, daß die Wertschöpfung selbst vor der Frage kommt, wie das Geschaffene gerecht zu verteilen ist. Dann wird auch Vollbeschäftigung erreichbar.


Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.

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