Welt ohne Grenzen

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16. Juni 2015, ZEIT Wissen

(Gastbeitrag von Klaus F. Zimmermann)

Die Flüchtlinge im Mittelmeer und im Indischen Ozean sind nur das jüngste Zeichen, dass das Staatensystem wankt. Was wäre, wenn es verschwände?
 

Wir sollten unsere eigenen Grenzen kennen. Aber darüber hinaus können wir uns getrost vom Konzept der Staatsgrenzen verabschieden – zumindest soweit Grenzen die Mobilität von Menschen einschränken. Dieser Gedanke mag zunächst undenkbar erscheinen und wie eine naive Utopie daherkommen, aber grenzenlose Mobilität ist zum Beispiel innerhalb der Europäischen Union (EU) längst Realität.

Und im weltweiten Maßstab ließen sich enorme wirtschaftliche Potenziale erschließen. Ökonomen erwarten, dass auf diese Weise das Bruttoinlandsprodukt der Welt erheblich gesteigert, möglicherweise sogar verdoppelt werden könnte. Der Effekt wäre viel größer als mögliche Gewinne durch den freien Güter- und Kapitalverkehr. Armut könnte erstmals im globalen Maßstab bekämpft werden. Das wäre ein mutiges Programm für den sozialen Ausgleich.

Wir haben nicht zuviel, sondern zu wenig internationale Mobilität. Befürchtungen, dass „reichen“ Ländern ein Massenansturm von Einwanderern drohe, sind unrealistisch. Die faktischen Migrationspotenziale bei Freizügigkeit werden systematisch überschätzt – es sei nur an die Horrorszenarien erinnert, die diesbezüglich vor der EU-Ostererweiterung kursierten. Praktisch nichts davon hat sich bewahrheitet. Heute leben weltweit rund 97% der Menschen in dem Land, in dem sie geboren wurden. So lässt sich eine optimale Ressourcenallokation nicht erreichen.

Natürlich würde grenzenlose Mobilität die Zahl der Einwanderer in „reiche“ Länder erhöhen. Dass dies jedoch negative Effekte auf die einheimische Bevölkerung hätte, ist ein verbreiteter Irrglaube. Im Gegenteil: Studien belegen die positiven Effekte von Zuwanderung auf Löhne und Beschäftigung. Schon heute stützen sich unsere sozialen Sicherungssysteme in hohem Maße auf Einwanderer – nicht umgekehrt! Diese Situation wird sich durch den demografischen Wandel noch verschärfen.

Negative Effekte offener Grenzen könnten sich für Länder einstellen, aus denen Menschen auswandern. Das übersieht die großen Potenziale, die durch Rücküberweisungen und Innovationsanstöße aus der Diaspora entstehen. Offene Grenzen ziehen zeitlich befristete und zirkuläre Wanderungen nach sich. Viele Wanderungswillige haben nicht die Absicht, dauerhaft in einem Land zu bleiben. Dies wird sich durch die Option zur Rückkehr bei offenen Grenzen noch verstärken und so einem „Brain Drain“ entgegenwirken.

Grenzenloser Wohlstand durch Mobilität ohne Grenzen? Wenn wir das Undenkbare durchdenken, erscheint in der Tat so mehr Wohlstand für alle möglich.


Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.

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