Mehr Arbeit für Deutschland

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20. August 2005, Frankfurter Allgemeine Zeitung

(Gastbeitrag von Klaus Zumwinkel und Klaus F. Zimmermann)
 

Es sind noch exakt 29 Tage bis zur Bundestagswahl. Nach allerlei Geplänkel will sich die Union im verbleibenden Wahlkampf nunmehr klar auf Sachthemen konzentrieren - vor allem auf den Arbeitsmarkt, der Reformen besonders nötig hat. In ihrem Regierungsprogramm heißt es: "In Deutschland sind in den letzten drei Jahren rund 1,5 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verlorengegangen . . . Das raubt vielen Menschen und ihren Familien Lebensgrundlage und Perspektive. Es ruiniert die Staatsfinanzen und die sozialen Sicherungssysteme. Deshalb ist unser wichtigstes Ziel: Arbeit schaffen." Einen solchen Schwerpunkt hatte freilich auch Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) schon gesetzt, als er vor sieben Jahren erstmals antrat. Seine Äußerungen aus dem Wahlkampf im Juli 1998 sind mittlerweile legendär: " . . . ich möchte gemessen werden nach vier Jahren . . . an einer einzigen Frage, an der nämlich, ob es . . . gelungen ist, die Arbeitslosigkeit massiv zu senken . . . Und wenn es uns nicht gelingt, bereits in den ersten Jahren Durchbrüche zu erzielen, dann haben wir es nicht verdient, weiter zu regieren." Weniger als 3 Millionen Arbeitslose sollten es werden - heute steht Deutschland mit knapp 4,8 Millionen Menschen ohne Arbeit da. Klaus Zumwinkel und Klaus Zimmermann schildern, wie die beschäftigungspolitische Herkulesaufgabe in einer globalisierten Wirtschaft zu meistern wäre: mit einer Senkung der Lohnnebenkosten, einer Flexibilisierung der Arbeitszeiten und einer betriebsnäheren Lohnfindung. (orn.)

Die anhaltend deprimierende Lage am deutschen Arbeitsmarkt hängt wie ein Mühlstein am Hals der Gesellschaft. Die Herausforderungen der Globalisierung stoßen in Deutschland auf eine Nation in Erstarrung. Richtige, aber noch zu zögernde Reformschritte werden rasch wieder verwässert. In dieser Situation erfordert eine Umkehr am Arbeitsmarkt vor allem Reformen der Sozialsysteme, um die notwendige Senkung der Lohnnebenkosten zu erreichen, eine deutliche Flexibilisierung der Arbeitszeiten sowie den Vorrang tarifvertraglichen Regelungen. Alles dient einem Ziel: mehr Arbeit in Deutschland, das sich im globalen Wettbewerb behaupten muss.

Arbeit ist schon wegen der Lohnnebenkosten in Deutschland viel zu teuer. Die Finanzierung der Arbeitslosen-, Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung über Sozialbeiträge belastet die Einkommen aus unselbständiger Arbeit mit mehr als 40 Prozent – das ist ein internationaler Spitzenplatz. Diese Last hemmt die Entstehung zusätzlicher Arbeitsplätze vor allem im Dienstleistungssektor. Abgabenbelastung und Arbeitslosigkeit bilden eine Art „Teufelskreis“: je höher die Arbeitslosigkeit, um so höher die Abgabenlast, was wiederum die Arbeitslosigkeit steigen lässt. In Zukunft drohen infolge der demographischen Entwicklung weiter steigende Beitragssätze, die allein in der Rentenversicherung (ohne Bundeszuschuß!) die 20-Prozent-Marke erheblich überschreiten werden.

Umfassende Reformen aller Sozialversicherungen sind unvermeidbar. Das gegenwärtig praktizierte staatliche Umlageverfahren ist anfällig für demographische Risiken; dagegen ist das Kapitaldeckungsverfahren bei privater Vorsorge anfällig gegen Kapitalmarktrisiken. Daher ist es sinnvoll, beide Verfahren in einem dualen System miteinander zu kombinieren: eine staatliche Grundsicherung und eine an individuellen Bedürfnissen ausgerichtete private Höherversicherung. Das Umlageverfahren aufzugeben ist derzeit allein schon wegen des Übergangsproblems nicht ratsam.

Auch beim Wechsel zu einem dualen System wird es eine Doppelbelastung im Übergang geben. Deshalb benötigt der Systemwechsel zwar lange Fristen, muss aber dennoch glaubwürdig eingeleitet werden. Hiervon zu trennen ist indes die Frage, welche Einkommen der Beitragspflicht unterliegen. Das Konzept einer „Bürgerversicherung“, das die Einbeziehung von Kapital- und Mieteinkünften vorsieht, ist nicht sachgerecht, da die Aufgabe der gesetzlichen Rentenversicherung die Absicherung des Einkommensrisikos im Alter ist. Ein spezifisches Altersrisiko besteht aber nur bei Erwerbseinkommen. Eine rasche Finanzierungsreform sollte zudem den Arbeitgeberanteil an die Arbeitnehmer auszahlen und von diesen den vollen Beitrag verlangen.

Keine falsche Solidarität vorgaukeln

Dies würde dem Missverständnis begegnen, daß die Beiträge der gesetzlichen Sozialversicherungen „solidarisch“ aufgebracht werden. Dem ist aber nicht so; denn auch der Arbeitgeberanteil ist Bestandteil des für die Einstellungsentscheidungen relevanten marktmäßigen Bruttolohns und wird letztlich jetzt schon faktisch vom Arbeitnehmer getragen. Der klare Vorteil einer Finanzierung durch den Arbeitnehmer besteht darin, daß vom Gesetzgeber verfügte Erhöhungen der Sozialversicherungsbeiträge nicht mehr automatisch zu Arbeitskostensteigerungen führen. Erhöhungen wären für die Politik auch schwerer durchsetzbar, da sie unmittelbar zu Wählerreaktionen führen würden. Das wiederum dürfte sich positiv auf die Bereitschaft der Politik zu nachhaltigen Strukturreformen auswirken.

Neben dem System- und Finanzierungswechsel müssen in den gesetzlichen Sozialversicherungen vor allem drei Ziele verwirklicht werden, um eine Beitragssatzbegrenzung bzw. -senkung zu erreichen: erstens flexiblere Lebensarbeitszeit, zweitens eine Privatisierung der Krankenversicherung und drittens die Abschaffung der gesetzlichen Pflegeversicherung.

Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters in Kombination mit einem früheren Eintritt der jungen Generation ins Erwerbsleben führt zu einer deutlichen Verbreiterung des Beitragsvolumens in der Rentenversicherung. So lässt sich der Anstieg der Beitragssätze stoppen. Dabei ist mittelfristig vorstellbar, die Fixierung eines gesetzlichen Renteneintrittsalters ganz aufzugeben und innerhalb eines Zeitkorridors einen früheren oder späteren Renteneintritt bei versicherungsmathematisch fairen Ab- oder Zuschlägen zu gestatten. So wird es beispielsweise in Finnland praktiziert, - mit einer überproportionalen „Belohnung“ der letzten Arbeitsjahre bei der Berechnung der Rente.

Die Unterscheidung von Pflicht- und freiwillig Versicherten verhindert eine ausgewogene Risikoaufteilung, weil überdurchschnittlich viele Personen mit niedrigen Gesundheitsrisiken in private Versicherungen ausweichen. Statt dessen sollte eine allgemeine Versicherungspflicht eingeführt und die Gesundheitsvorsorge in verpflichtende Grundleistungen und Wahlleistungen aufgeteilt werden. Der Staat regelt dann nur noch den Leistungskatalog der obligatorischen Mindestabsicherung. Bei allgemeiner individueller Versicherungspflicht und Kontrahierungszwang der Versicherer besteht kein Bedarf mehr an gesetzlichen Krankenversicherern. Diese wären entsprechend zu privatisieren. Da die Versicherungsleistung bei Krankheit nur sehr mittelbar am Erwerbseinkommen anknüpft, sind einkommensabhängige Beiträge nicht sachgerecht. Vorzuziehen wäre ein System von Pauschalbeiträgen, auch wenn dies bedeutet, daß für Bezieher niedrigerer Einkommen möglicherweise zumindest ein Teil der Pauschalen als Transfer aus dem allgemeinen Steueraufkommen gezahlt werden müsste. Beim Übergang zu einem solchen Gesundheitsprämienmodell würde das Krankheitsrisiko auch nicht mehr auf der Haushalts-, sondern auf individueller Ebene abgesichert. So macht es die Schweiz, wo es zusätzlich Selbstbeteiligungen der Versicherten und ein System des „Managed Care“ gibt, das durch ein Netz von Vertragsärzten kostentreibende Fehlanreize vermindert.

Die Einführung einer gesetzlichen Pflegeversicherung im Umlageverfahren war angesichts der demographischen Entwicklung ein gravierender Fehler. Da die Versicherung aber noch jung ist und die Ansprüche begrenzt sind, empfiehlt sich ein radikaler Schritt – die Abschaffung und ihr Ersatz durch eine der nachgelagerten Besteuerung unterliegende verpflichtende private Vorsorge.

Weitere Reduzierungen der Lohnnebenkosten bedürfen der Gegenfinanzierung: Insgesamt ließen sich unter Berücksichtigung rechtlicher Bindungen durch einen Abbau von Steuersubventionen erhebliche Milliardenbeträge einsparen, darunter die überlebte Eigenheimzulage, die Entfernungspauschale oder die Steuerfreiheit von Feiertags-, Wochenend- und Nachtarbeitszuschlägen. Auch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer bietet sich zur Umfinanzierung und zur gerechten Ausgestaltung der Sozialreformen an. Dafür sprechen auch grundsätzliche Erwägungen: Diese Steuer belastet Investitionen in Sach- und Humankapital nicht und ihre Bemessungsgrundlage ist sehr breit. Zudem ist die deutsche Mehrwertsteuer im internationalen Vergleich niedrig. Nur Luxemburg hat mit 15% einen niedrigeren Steuersatz. Vergleichbare Länder wie Frankreich (19,6%) oder Italien (20%) weisen deutlich höhere Sätze auf. Des Weiteren sind indirekte Steuern im Vergleich zur Einkommensteuer weniger fühlbar, so daß Ausweichstrategien tendenziell geringere Bedeutung erlangen. Konsum aus Schwarzarbeit wird im Übrigen dann auch besteuert. Exporte werden nicht belastet, Importe dagegen schon.

Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten spürbar abgesenkter Lohnnebenkosten sowie reduzierter Einkommensteuertarife wäre ein sinnvoller Einstieg in eine schrittweise Abkehr vom System der direkten Besteuerung. Der oft angeführten „Ungerechtigkeit“ einer Mehrwertsteuererhöhung durch die stärkere Belastung einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen kann, soweit dies überhaupt zutrifft, durch eine Differenzierung der Mehrwertsteuersätze entgegen gewirkt werden.

Neben einer raschen Reduzierung der Lohnnebenkosten sind Veränderungen bei der Arbeitszeit erforderlich. Um den angeblichen Trend eines fallenden Arbeitskräftebedarfs aufzufangen, wird häufig vorgeschlagen, daß jeder Arbeitnehmer weniger arbeiten solle. Kaum ein Argument ist ökonomisch zweifelhafter. Denn: Die nachgefragte Arbeitsmenge bleibt natürlich nicht konstant, wenn Arbeitnehmer weniger arbeiten. Eine reduzierte Wochenarbeitszeit erhöht unweigerlich die Fixkosten der Arbeit: in der Personalverwaltung, für den physischen Arbeitsplatz oder für die Suche und Einarbeitung neuer Beschäftigter. Das macht den Faktor Arbeit teurer, selbst wenn die Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich stattfindet. Auch werden die knappen qualifizierten Arbeitskräfte dadurch noch knapper und teurer – dies gefährdet wegen ausbleibender Produktion auch die Beschäftigung von gering Qualifizierten. Eine solche Politik zerstört Arbeitsplätze.

Die effektive Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten liegt in Deutschland nach Angaben von Eurostat mit etwas mehr als 41 Arbeitsstunden pro Woche leicht unter dem europäischen Durchschnitt, etwas vor Frankreich, aber zugleich weit hinter Großbritannien, wo im Durchschnitt mehr als 43 Stunden gearbeitet wird. Das heißt aber auch, daß in Deutschland de facto mehr gearbeitet wird als tariflich vereinbart. Im Falle von entlohnten Überstunden entstehen den Unternehmen dabei höhere Kosten. Dies kann insbesondere für gering qualifizierte Arbeitnehmer zu Beschäftigungsverlusten führen, da sie leichter durch Maschinen zu ersetzen oder von Produktionsverlagerungen ins Ausland betroffen sind. Solche Verteilungseffekte sollten den Gewerkschaften zu denken geben, die durch Arbeitszeitverkürzung Arbeitsplätze in den unteren Einkommensgruppen sichern wollen.

Auf die Unternehmen Rücksicht nehmen

Es ist deshalb an der Zeit, daß die Tarifpartner mehr und weniger Arbeitszeit je nach Betriebsauslastung ohne komplizierte Überstundenregelungen gestatten und die Arbeitszeit tendenziell eher ausweiten anstatt sie pauschal zu verringern.

Betrachtet man den Arbeitsmarkt, so gilt es neben Lohnnebenkosten und Arbeitszeit als dritten Punkt auch die Lohnentwicklung und die Tariflandschaft beurteilen: Als notwendiger Schritt zur Bewältigung der Beschäftigungs- und Wachstumskrise wird von verschiedenen Seiten eine „nachhaltige Lohnentwicklung“ eingefordert, wobei entweder Lohnzurückhaltung oder höhere Lohnabschlüsse gemeint sind. Befürworter von „Lohnzurückhaltung“ führen als Begründung meist an, daß eine über mehrere Jahre angelegte Lohnzurückhaltung in einer Volkswirtschaft mit hoher Arbeitslosigkeit mittelfristig günstig auf den Arbeitsmarkt wirken kann. Dies zeigen die Erfahrungen der Niederlande nach 1982 und Dänemarks nach 1994.

Dagegen argumentieren die Befürworter einer expansiven Lohnpolitik mit Verweis auf die USA, Grossbritannien oder Schweden, daß angesichts steigender Produktivität Lohnzurückhaltung aus Verteilungsgründen unzumutbar sei. In diesen Ländern seien die Löhne in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren weitaus schneller gestiegen, gleichzeitig seien diese Volkswirtschaften viel schneller gewachsen und hätten Erfolge bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit erzielt. Dieser Sichtweise kann freilich entgegen gehalten werden, daß gerade in diesen Ländern die Deregulierung der Arbeits- und Produktmärkte, der Abbau von staatlichen Leistungen im Bereich der Arbeitslosen- oder der Krankenversicherung und die Loslösung der Finanzierung sozialer Sicherheit vom Faktor Arbeit am weitesten vorangeschritten ist. Erst dadurch konnten Beschäftigungszuwächse erreicht werden und ließ sich Spielraum für höhere Reallohnsteigerungen gewinnen.

Allokations- und Verteilungsargumente werden in der öffentlichen Diskussion häufig vermischt und mit einer Prise Konjunkturpolitik garniert. In der Realität wird der Faktor Arbeit aber gar nicht ausschließlich nach Produktivität entlohnt. Vielmehr erhalten die Arbeitnehmer einen „angemessenen“ Anteil des Produktivitäts- und/oder Gewinnanstieges als Lohnerhöhung. Implizit teilen sich also Arbeitgeber und Arbeitnehmer Produktrenten auf. Hier setzt die Verteilungsdebatte an. Dabei ist jedoch auch wichtig zu erkennen, daß Veränderungen im Aufteilungsverhältnis allokative Auswirkungen haben. So sehen sich Unternehmen, die aufgrund höheren Lohndrucks nur einen kleineren Teil der Produktrenten als Gewinne ausweisen können, häufig gezwungen, ihre Produktionsprozesse arbeitssparender zu gestalten. Gesamtwirtschaftlich ist das Argument, der Wirtschaft werde durch niedrige Lohnsteigerungen Kaufkraft entzogen, in diesem Zusammenhang nicht richtig. Kaufkraft ist nicht nur eine Frage von Lohnsteigerungen, sondern hängt auch davon ab, wie viele Menschen Erwerbseinkommen beziehen.

„Nachhaltig“ in des Wortes eigentlicher Bedeutung können Lohnabschlüsse letztlich nur sein, wenn sie auf die Situation des jeweiligen Unternehmens Rücksicht nehmen. Das muss das Ziel von „nachhaltiger“ Lohnentwicklung sein. Das Betriebsverfassungsgesetz erklärt jedoch Betriebsvereinbarungen grundsätzlich für unwirksam, solange der Flächentarifvertrag keine Öffnungsklausel enthält. Individuelle Vereinbarungen haben dann nur ein bedingtes Existenzrecht. Immer häufiger werden aber Betriebsvereinbarungen praktiziert, obwohl sie rechtlich unzulässig sind. Offenbar legen Arbeitnehmer in den Betrieben ein größeres Gewicht auf die Sicherung der Beschäftigung als dies in Tarifverträgen geschieht. Um diese Situation zu legalisieren, sollte Betriebsvereinbarungen prinzipiell Vorrang eingeräumt werden. Letztlich sollte der entsprechende Passus im Betriebsverfassungsgesetz ersatzlos entfallen. Damit würde ein Wettbewerb zwischen Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen erreicht, der im Ergebnis zu Tarifverträgen führt, die dem Erhalt und der Schaffung von Arbeitsplätzen dienlich sind.

Alle beschriebenen Bausteine – die Senkung der Lohnnebenkosten, die Flexibilisierung der Arbeitszeit und die betriebsnahe Lohnfindung - dienen dazu, die Chancen Deutschlands im globalen Wettbewerb zu verbessern. Wir befinden uns heute in einem international weitgehend unbegrenzten Wettbewerb um Produktionsfaktoren und Absatzmärkte für Güter und Dienstleistungen. Das verändert die Funktionsweise nationaler Volkswirtschaften grundlegend. Dieses Faktum müssen wir zur Kenntnis nehmen.

Offensiv mit der Öffnung der Grenzen umgehen

Einerseits bietet die Öffnung der Grenzen und der Abbau von Kommunikations- und Transportbarrieren große Chancen: die Globalisierung schafft für alle an ihr teilhabenden Staaten die Möglichkeit, die komparative Vorteile ihrer nationalen Wirtschaften zu nutzen. Eine effiziente internationale Arbeitsteilung ergibt sich aus einer Spezialisierung auf die Produktion jener Güter und Dienstleistungen, bei deren Erzeugung die nationalen Produzenten besonders wettbewerbsfähig sind. Andererseits bewirkt die Globalisierung eine irreversible Beschleunigung und Verschärfung des Wettbewerbs. Produzenten, die bislang vom internationalen Wettbewerb verschont blieben, laufen Gefahr, vom Markt zu verschwinden, wenn sie sich den veränderten Bedingungen nicht anpassen.

Eine Ausweichstrategie der Unternehmen kann in der Verlagerung der Produktion bestehen. Beispielsweise ist in Deutschland die Produktion von Textilien schon lange weitgehend zum Erliegen gekommen. Dieser Prozess der Globalisierung schreitet jedoch unaufhaltsam voran und kann dazu führen, daß auch kapitalintensivere Produktionszweige mit einem Bedarf an höher Qualifizierten ins Ausland abwandern. Manche Unternehmen und Arbeitsplätze werden so im Zuge des globalen Wettbewerbs verschwinden. Diese Entwicklung ist unvermeidlich, sie aufhalten zu wollen wäre kostspielig und falsch.

Die große Herausforderung für uns liegt vielmehr darin, dafür zu sorgen, daß neue Unternehmen und Produktionszweige entstehen können, von denen positive Impulse für die Beschäftigung ausgehen. Deutschland als ein Land mit einer gut ausgebauten Basis an qualifizierten Arbeitskräften, einem funktionsfähigen Innovationssystems und einer guten Infrastruktur ist hierfür im Grunde gut gerüstet. In der öffentlichen Wahrnehmung werden allerdings als Konsequenz aus der Globalisierung nur Betriebsinsolvenzen, Unternehmensverlagerungen ins Ausland und Massenentlassungen genannt. Dabei verfügt Deutschland über große globalisierungsbedingte Chancen: Als Land mit starker Exportorientierung ist es auf die Erschließung neuer Märkte potenziell gut vorbereitet. Hier liegen besondere Chancen gerade auch im Hinblick auf die EU-Ost-Erweiterung.

Weniger gut steht es jedoch um die Bewältigung der Folgen von Globalisierung und EU-Ost-Erweiterung im eigenen Land. Hier dominiert eine Strategie der Abschottung gegen den Wettbewerbsdruck von außen. Vor diesem Hintergrund sind die Diskussion um die Einführung von Mindestlöhnen (Ausweitung des Entsendegesetzes) und auch die heftige Abwehrhaltung gegenüber einer Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie in internationales Recht zu sehen. Im Gegensatz dazu ergeben optimistische Schätzungen, daß bei einer ganz Europa umfassenden Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie der direkt und indirekt ausgelöste Beschäftigungseffekt allein in Deutschland bei 100.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen liegen könnte. Dies kann aber nur gelingen, wenn wir mit der Öffnung der Grenzen offensiv umgehen, anstatt uns defensiv zu verhalten.

Dabei sollte Deutschland nicht zuletzt auch seinen besonderen Standortvorteil als „Grenzland“ und Heimat von überdurchschnittlich vielen Migranten aus den neuen EU-Staaten einbringen. Neue Zuwanderer aus diesen Staaten bringen Sprachkenntnisse und kulturelles Kapital mit. Beides wird benötigt, um die Märkte in den neuen Ländern der Europäischen Union besser zu erschließen. Deutschland ist keine „Basarökonomie“, die nur noch davon profitiert, Bauteile aus dem Ausland zu importieren und zusammenzusetzen, in Wirklichkeit aber keine echte inländische Wertschöpfung mehr betreibt. Die Handelsbilanz Deutschlands mit den Staaten Osteuropas weist einen klaren Außenhandelsüberschuss aus. Von der intensiveren Arbeitsteilung gerade mit den neuen EU-Staaten hat Deutschland bislang eindeutig profitiert, auch wenn es seine Chancen nur unvollkommen genutzt hat. Durch richtiges Handeln kann Deutschland auch hier noch mehr erreichen.


Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.

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