Angriff auf die Willkommenskultur

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23. Mai 2014, Handelsblatt

(Mit Stellungnahme von Klaus F. Zimmermann)
 

Bundespräsident Gauck betont den Wert der Einwanderung. Doch die Regierung plant neue Hürden.

FRANK SPECHT
BERLIN

Der 65. Geburtstag des Grundgesetzes ist ein urdeutsches Ereignis. Doch Bundespräsident Joachim Gauck nutzte die Feierstunde im Schloss Bellevue am Donnerstag auch dazu, an jene Menschen aus dem Ausland zu erinnern, ohne die sich der Wohlstand nicht dauerhaft sichern lässt: "Unser Land braucht Einwanderung", betonte das Staatsoberhaupt. "Wir verlieren uns nicht, wenn wir Vielfalt akzeptieren." Da war sie wieder, die viel beschworene Willkommenskultur.

Allerdings dürfe man auch die "Begleiterscheinungen der Einwanderungsgesellschaft" nicht vergessen, sagte Gauck und zählte auf: Ghettobildung, Jugendkriminalität, Sozialhilfekarrieren.

Vor allem der Vormarsch rechtspopulistischer Splitter-parteien vor der Europawahl und die Debatte über angebliche Armutszuwanderer aus Bulgarien und Rumänien haben dazu geführt, dass augenblicklich eher die negativen Begleiter-scheinungen der Einwanderung diskutiert werden. Die CSU warnte vor "Sozialmissbrauch" durch Ausländer. Und Kanzlerin Angela Merkel betonte gerade in einem Interview, die EU sei "keine Sozialunion", in der sich jeder nach Belieben Sozial-leistungen aussuchen dürfe.

Die Wirtschaft, Ökonomen und die Opposition sehen diese Debatte mit Sorge. Sie warnen davor, Populisten auf den Leim zu gehen und die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland wieder einzuschränken. "Viele Betriebe suchen schon heute händeringend nach Fachkräften", sagte der Vize-Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Achim Dercks, dem Handelsblatt.

"Zuwanderung leistet hier einen wichtigen Beitrag, umso mehr, als das Qualifikationsniveau der Neuzuwanderer überdurchschnittlich hoch ist." Tatsächlich verfügen nach älteren Daten der Bundesagentur für Arbeit knapp 43 Prozent der Zuwanderer über einen Hochschulabschluss.

Auf den ersten Blick funktioniert die Willkommenskultur noch: 1 108 000 Zuwanderer aus dem Ausland kamen 2013 nach Deutschland, darunter rund zwei Drittel aus EUStaaten, wie das Statistische Bundesamt am Donnerstag mitteilte. Der Wanderungssaldo, also die Differenz zwischen Zu- und Abwanderern, ist auf 437 000 Personen und damit den höchsten Stand seit 20 Jahren geklettert. Unter den Industrieländern sind nur die USA noch attraktiver für Migranten, hat die OECD jüngst ermittelt.

Die meisten Zuwanderer kommen allerdings aus EU-Ländern, die künftig selbst mit dem demografischen Wandel zu kämpfen haben, mahnt Dercks. Der Zustrom könnte nach Ende der Wirtschaftskrise also schon bald versiegen.

Diese Gefahr sieht auch eine Gruppe von Arbeitsökonomen aus zehn EU-Ländern. In einem Thesenpapier, das dem Handelsblatt vorliegt, fordern sie das Europaparlament und die nationalen Regierungen auf, für einen Arbeitsmarkt ohne Grenzen zu kämpfen. Zu den Unterzeichnern gehören der Direktor des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), Klaus F. Zimmermann, Pierre Cahuc von der französischen Kaderhochschule ENSEA und Juan F. Jimeno von der spanischen Notenbank.

Statt eine rückwärtsgewandte Politik zu betreiben, gelte es, Mobilitätshemmnisse auf Europas Arbeitsmärkten abzubauen, mahnen die Forscher. Sie fordern mehr Transparenz im Steuer- und Sozialrecht, klare Bedingungen beim Sozial-leistungsbezug, eine EU-weite Anerkennung von Berufsqualifikationen oder bessere Sprachförderung. Auch der Staat müsse seiner Vorbildfunktion als Arbeitgeber gerecht werden und im öffentlichen Dienst mehr Migranten einstellen. Die ungehinderte Freizügigkeit sorge "für mehr wirtschaftliche Dynamik" und helfe, gravierende ökonomische Ungleichgewichte abzubauen, heißt es in dem Aufruf.

Dass der befürchtete Angriff auf die Freizügigkeit mehr ist als Wahlkampfrhetorik, zeigt ein Gesetzentwurf der Regierung, der dem Handelsblatt vorliegt. Der sieht vor, das Recht für EU-Bürger, in Deutschland Arbeit zu suchen, auf sechs Monate zu begrenzen. Danach sollen sie nur bleiben dürfen, "solange sie nachweisen können, dass sie begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden". Missbrauch beim Kindergeldbezug soll durch den Nachweis der Steueridentifikationsnummer verhindert werden.

Der Gesetzentwurf folgt Merkels Absage an eine Sozialunion. Nur mit europaweiter Solidarität lasse sich aber die Armut bekämpfen, die viele Menschen aus anderen Ländern erst nach Deutschland treibe, sagt Wolfgang Strengmann-Kuhn, sozial-politischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion. Aber auch er mahnt im Einklang mit der Wirtschaft: "Ökonomisch brauchen wir die Zuwanderung. Deshalb ist es wichtig, nicht an der Schraube Freizügigkeit zu drehen."

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Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.

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