Flexibilisierung zu Gunsten von Vertriebsvereinbarungen

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Januar 2003, Unternehmermagazin 1-2/2003

(Gastbeitrag Hilmar Schneider)
 

Wenn in Deutschland vom Tarifkartell die Rede ist, denkt man gemeinhin an ein Bündnis von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, das sich trotz gegensätzlicher Interessen zu Lasten des Gemeinwohls zusammenschließt. Das Ergebnis äußert sich unter anderem in überhöhten Lohnabschlüssen, verantwortungslosen Vorruhestandsregelungen und in einer exzessiven Ausweitung vermeintlich aktiver Arbeitsmarktpolitik. Dabei wird allzu gern übersehen, dass ein solches Bündnis ohne den Staat als dritten Partner vermutlich gar nicht zustande käme. Der Staat schafft den institutionellen Rahmen, der ein Tarifkartell überhaupt erst möglich macht. Er zieht seinen eigenen Nut-zen aus dessen Existenz und ist somit Teil des Kartells. Das macht die Überwindung des Tarifkartells übrigens auch so schwierig

Die Macht des Tarifkartells ruht auf mehreren Säulen, die zum großen Teil schon zu Beginn der Geschichte der Bundesrepublik verankert wurden, wobei deren Vorbilder teilweise schon in der Bismarck-Zeit zu finden sind. Den Hauptpfeiler bildet zweifellos Artikel 9 des Grundgesetzes, worin die Koalitionsfreiheit verbrieft ist. Dieser Artikel gilt als Grundlage dessen, was bis heute als Tarifautonomie verstanden wird.

Überzogenes Verständnis von Tarifautonomie

Tarifautonomie bedeutet, dass Arbeitsbedingungen von den Tarifparteien ohne staatliche Eingriffe geregelt werden. Zur Koalitionsfreiheit sollte das Recht gehö-ren, keiner Tarifpartei anzugehören. Genau dies wird jedoch im vorherrschenden Verständnis von Tarifautonomie in Frage gestellt. So enthält das Tarifvertragsgesetz bereits seit der ersten Fassung von 1949 die Möglichkeit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifvereinbarungen durch den Staat. Es erlaubt also die Übertragung von Tarifvereinbarungen auf Unternehmen, die tarifvertraglich eben nicht gebunden sind. Hier offenbart sich eine Vorstellung von Tarifautonomie, die über die Koalitionsfreiheit weit hinaus geht. Nach dieser Interpretation ist letztlich nicht allein die freie Vereinbarung zwischen Tarifpartnern als solche geschützt, sondern auch deren Inhalt.

Durch die Einschränkung der Tarifabstinenz wird den Tarifpartnern Handlungsspielraum für wettbewerbsfeindliche Vereinbarungen eingeräumt. Ohne die Möglichkeit zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung könnten Tarifpartner zwar wei-terhin nach Belieben Tarifvereinbarungen treffen, müssten aber damit rechnen, dass marktwidrige Vereinbarungen durch Verbandsaustritt beantwortet und damit über kurz oder lang obsolet würden. Dies wollte der Gesetzgeber in der Vergangenheit offenbar verhindern.

In diesem Sinne ist auch das Betriebsverfassungsgesetz zu interpretieren, das bereits in seiner Urfassung von 1952 eine deutliche Einschränkung des betrieblichen Handlungsspielraums in Tariffragen formuliert. Danach dürfen Unternehmensleitung und Betriebsrat im Grundsatz keine Vereinbarungen über Inhalte treffen, die Gegenstand von Tarifverträgen sind. Abweichungen sind nur erlaubt, wenn der Tarifvertrag eine Öffnungsklausel enthält, oder wenn der Arbeitnehmer günstiger gestellt wird als im Tarifvertrag.

Das so genannte "Günstigkeitsprinzip" wird in der Rechtsprechung bislang ausschließlich in einem materiellen Sinn interpretiert. Dieses Verständnis vernachlässigt die ökonomisch ebenso wichtige Risikodimension. Denn es läuft den Interessen der Arbeitnehmer zuwider, denen die Möglichkeit genommen wird, zu Gunsten einer höheren Beschäftigungssicherheit auf Lohn zu verzichten, und trägt damit selbst zur Entstehung von Arbeitslosigkeit bei.

Die inhaltsbezogene Lesart von Tarifautonomie zieht sich bis heute wie ein roter Faden durch die Argumentation von Gewerkschaftsvertretern und Politikern, die Arbeitnehmerinteressen vertreten. Als jüngster Beleg dafür kann der - wenn auch im letzten Jahr gescheiterte - Versuch der Bundesregierung zur Durchsetzung eines Tariftreuegesetzes auf Bundesebene gelten. Wie schon der Blick in die Geschichte zeigt, sind es hier keineswegs nur Sozialdemokraten, die einem überzogenen Verständnis von Tarifautonomie anhängen. Mitte der 90er Jahre verabschiedete die Kohl-Regierung das Entsendegesetz, um insbesondere in der Baubranche ausländische Lohnkonkurrenz fernzuhalten. Es soll nicht verschwiegen werden, dass hier auch das Unternehmerlager zu den maßgeblichen Befürwortern gehörte.

Das System der sozialen Sicherung

Der Staat greift nicht nur direkt, sondern auch indirekt in das Tarifgeschehen ein. Dies wird besonders augenfällig am System der sozialen Sicherung. So werden beispielsweise durch die gegenwärtige Ausgestaltung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe implizite Mindestlöhne geschaffen, welche die Ausbildung eines Niedriglohnsektors behindern. Diese Mindestlöhne liegen bis zum Zweifachen über dem jeweiligen Unterstützungsanspruch. Das erreichbare Lohneinkommen liegt dagegen für gering Qualifizierte, aber auch für Ältere, vielfach darunter, so dass die Aufnahme einer Beschäftigung nicht attraktiv ist. Unternehmen werden so dazu veranlasst, Arbeitsplätze für gering Qualifizierte abzubauen, da solche Arbeitsplätze wegen fehlender Bereitschaft zu niedrig entlohnter Arbeit nur schwer besetzbar sind. Statt dessen schlägt sich die Arbeitsnachfrage in beschleunigter Automatisierung und in Produktionsverlagerungen ins kostengünstigere Ausland nieder. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass vor allem gering Qualifizierte und Ältere die Hauptlast der Arbeitslosigkeit zu tragen haben.

Das System stützt die bestehende Lohnstruktur, da die Lohnkonkurrenz aus dem unteren Einkommensbereich durch die impliziten Mindestlohnschwellen eingeschränkt ist. Somit fehlt ein weiteres marktwirtschaftliches Korrektiv für Tarifverhandlungen. Dies erklärt auch, warum gerade die Gewerkschaften ein so ausgeprägtes Interesse am Erhalt und Ausbau des Sozialstaats besitzen.

Die Rolle der Bundesanstalt für Arbeit

Die Bundesanstalt für Arbeit übernimmt in diesem System eine wichtige Funktion. Sie ist gemäß ihrem ursprünglichen Ziel für die Arbeitslosenversicherung zuständig. Spätestens aber seit Einführung des Arbeitsförderungsgesetzes Ende der sechziger Jahre hat sie mehr und mehr eine zweite Rolle übernommen. Neben der Risikoabsicherung nimmt sie einen Großteil der Verantwortung für die Durchführung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen wahr. Diese Aufgaben - insbesondere die derzeit von der Bundesanstalt für Arbeit praktizierten Beschäftigungsmaßnahmen, aber auch Instrumente wie die Altersteilzeit und ein großer Teil der Qualifizierungsmaßnahmen - sind mit dem eigentlichen Versicherungsziel der Einkommenssicherung bei Arbeitslosigkeit kaum vereinbar. Darüber hinaus unterliegt die Bundesanstalt für Arbeit in ihrer heutigen Struktur der Gefahr, von Politik und Interessenverbänden für versicherungsfremde Ziele instrumentalisiert zu werden.

Die drittelparitätische Besetzung ihrer Selbstverwaltungsgremien durch Politik, Arbeitgeber und Gewerkschaften dient nicht notwendigerweise den Versicherteninteressen. Mit Unterstützung des Gesetzgebers und den ihr so zur Verfügung gestellten Instrumenten greift die Bundesanstalt für Arbeit wettbewerbsverzerrend in das Tarifgeschehen ein. Sie schützt arbeitsplatzgefährdende Tarifvereinbarungen, indem sie Auffanglösungen für die Betroffenen bereitstellt. Auf diese Weise enthebt sie die Tarifpartner ihrer arbeitsmarktpolitischen und gesellschaftlichen Verantwortung.

Wege zu mehr Wettbewerb am Arbeitsmarkt

Der Ausbau des Wohlfahrtsstaates hat in gut gemeinter Absicht zahlreiche Schutzrechte geschaffen. Dabei wurde jedoch zu wenig dafür Sorge getragen, dass die am Arbeitsmarkt beteiligten Akteure - Unternehmen Arbeitnehmer, Arbeitslose, Gewerkschaften und Politik - Entscheidungen im Sinne des Gemeinwohls treffen. Dieses Defizit lässt sich nicht mit Appellen beseitigen. Seine Überwindung muss vielmehr an den institutionellen Ursachen ansetzen. Die Verantwortung der Tarif-partner für das Arbeitsmarktgeschehen zu stärken, bedeutet vielfach, dass sich die Politik und die Gesetzgebung aus Angelegenheiten zurückziehen sollte, die bilateral zwischen den Tarifpartnern geregelt werden können. Die betriebliche Praxis hat diese Entwicklung teilweise ohnehin bereits vorweggenommen.

Unter dem Dach der Tarifautonomie ge-troffene Vereinbarungen sollten grundsätzlich nur für Mitglieder der Tarifparteien gelten. Eine generelle Einschränkung des betrieblichen Gestaltungsspielraums durch Allgemeinverbindlichkeitserklärungen ist nicht zu rechtfertigen. Die existierenden Regelungen - auch in Form des Entsendegesetzes - sollten daher aufgehoben werden. Darüber hinaus sollte Betriebsvereinbarungen gegenüber den Flächentarifverträgen prinzipieller Vorrang eingeräumt werden. Dies bedeutet eine Umkehrung der derzeitigen Verhältnisse: Ein Tarifvertrag wäre nur dann relevant, wenn keine gültige Betriebsvereinbarung besteht.

Das mit der Arbeitslosen- und Sozialhilfe verbundene Anreizproblem lässt sich durch das als "Workfare" bekannte Prinzip der sozialen Existenzsicherung gegen Arbeitsleistung lösen, ohne das Niveau der sozialen Existenzsicherung zu senken. Erwerbsfähige Transferberechtigte sollten die ihnen zustehenden Leistungen grundsätzlich nur noch dann in vollem Umfang erhalten, wenn sie im Gegenzug eine sozial nützliche Beschäftigung aufnehmen. Durch diese konsequent durchgesetzte Pflicht zur Arbeitsleistung werden auch Tätigkeiten, deren Entlohnung nur wenig oberhalb des Transferanspruchs liegt, wieder attraktiv. Die meisten erwerbsfähigen Transferempfänger würden auf den Arbeitsmarkt zurückkehren, da sie dort bei gleicher Arbeitszeit ein höheres Nettoeinkommen erzielen können. Weil die Unternehmen wieder auf ein entsprechendes Arbeitsangebot treffen, entstehen niedrig entlohnte Arbeitsplätze neu. Die damit verbundene Erweiterung der Lohn-skala nach unten würde zudem einen wichtigen Beitrag zur Flexibilität des Arbeitsmarkts leisten.

Die Aufgabe der Bundesanstalt für Arbeit sollte sich künftig ausschließlich auf die Versicherung des Arbeitslosigkeitsrisikos beschränken. Die Verantwortung für die Vermittlung von Arbeitslosen und Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik sollte auf private Institutionen übergehen, die fortan allen Arbeitsuchenden und nicht nur den Beitragszahlern offen stehen. Die neue Arbeitslosenversicherung sollte ausschließlich beitragsgedeckt arbeiten und ohne Defizitabdeckung durch den Bund auskommen. Mit der Beschränkung auf die Versicherungsaufgabe sollte die drittelparitätische Form der Selbstverwaltung der Bundesanstalt entfallen, um die institutionelle Autonomie der Arbeitslosenversicherung sicherzustellen.

An Möglichkeiten und Ansatzpunkten zur Beseitigung der strukturellen Defizite besteht folglich kein Mangel. Dass deren Umsetzung den beteiligten Interessengruppen nicht unbedingt passt, sollte die Politik nicht stören. So paradox es klingt: Je entschlossener die Politik überkommene Besitzstände in Frage stellt, desto größer sind die Chancen für einen Konsens über alle Interessengruppen hinweg. Das ist die eigentliche Lehre aus dem so oft gelobten Poldermodell in den Niederlanden.


Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.

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