Tunesien braucht billiges Brot für eine große Zukunft

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18. Mai 2011, Der Standard (Österreich)

(Bericht über Ökonomenaufruf an die G-8 unter Beteiligung von Klaus F. Zimmermann)

Wirtschaftsprofessoren aus aller Welt richten einen Appell an die G8
 

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Die Tunesier haben einen Despoten friedlich verjagt - die Zukunft müssen sie erst gestalten. Es könnte eine mustergültige Erneuerung werden - wenn der Westen hilft, sagen Wirtschaftsprofessoren aus aller Welt in einem Appell an die G8.

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Entgegen vieler Vorhersagen haben die Bürger Tunesiens auf friedliche Weise das Ende eines autokratischen Regimes herbeigeführt. Der "Arabische Frühling" wird die Zukunft der Mittelmeeranrainerstaaten in Nahost und Nordafrika entscheidend prägen und ihre Beziehungen zur Europäischen Union auf ein neues Fundament stellen. Für die kommenden Generationen könnte die historische Bedeutung der aktuellen Ereignisse gleichbedeutend mit dem Fall der Berliner Mauer sein. Daher sind die G8-Staaten dringend aufgerufen, jetzt die Chance des Augenblicks zu ergreifen und sicherzustellen, dass Tunesien zum Präzedenzfall für positiven sozialen, ökonomischen und demokratischen Wandel in der Region und darüber hinaus wird. Ein Scheitern des Umbruchs in Tunesien muss verhindert werden, denn dies wäre eine folgenschwere Niederlage für alle Protagonisten demokratischer Reformen in der Region und ein "Sieg" für die dortigen Diktaturen.

Land am Scheideweg

Es wäre fatal für Tunesien, wenn der Rest der Welt abwarten würde, bis der politische Wandel abgeschlossen ist, während sich die wirtschaftliche Lage des Landes zusehends verschlechtert. Tunesien braucht sofortige Hilfe, um nicht Gefahr zu laufen, kurz vor der erfolgreichen Demokratisierung aus der Bahn geworfen zu werden. Das Land ist an einem historischen Scheidepunkt angelangt, der durch eine so genannte "J-Kurve" gekennzeichnet ist, wie sie häufig bei Demokratisierungsprozessen zu beobachten ist: Ein erheblicher Abfall der Wirtschaftsleistung geht dabei einem kräftigen Aufschwung voraus.

Tunesien kann diese anfängliche wirtschaftliche Schwächephase nur mit internationaler Hilfe überwinden. Die Revolution ist von unschätzbarem Wert, hat aber ihren Preis. Nach aktuellen Schätzungen wird das Wirtschaftswachstum in Tunesien vorläufig unter 1 Prozent fallen. Bereits jetzt hat der politische Umbruch die tunesische Wirtschaft rund 2 Milliarden Dollar gekostet (4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts). Der Tourismus, der 6,5 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes ausmacht, ist schwer getroffen und dürfte die Arbeitslosigkeit weiter ansteigen lassen. Das Klima der Unsicherheit hat zu einer deutlichen Herabstufung Tunesiens durch die internationalen Rating-Agenturen geführt.

Tunesien ist in dieser Lage auf konkrete und rasche Hilfe angewiesen: Finanzbeihilfen zur Absicherung eines Sonderhaushalts, technische Hilfeleistungen, humanitäre und ärztliche Versorgung der Flüchtlinge aus Libyen sind ebenso notwendig wie eine unmittelbare finanzielle Unterstützung bei der Subventionierung der Nahrungsmittel- und Energieversorgung.

Demokratisches Potenzial

Im Vergleich zu anderen Ländern der Region ist das allgemeine Bildungsniveau, insbesondere die Alphabetisierungsquote, in Tunesien außerordentlich hoch. Vor diesem Hintergrund kann das Land mittel- bis langfristig eine der dynamischsten und damit zugleich vor Extremismus am besten geschützten Demokratien des arabischen Raums werden. Demokratische Strukturen ermöglichen nicht nur eine bessere Umverteilung der Ressourcen und Einkommen des Landes, sondern tragen auch entscheidend zur Beseitigung von Korruption bei.

Als Ökonomen wissen wir, dass sich Investitionen oft erst langfristig auszahlen. Wir glauben daran, dass Tunesien das Potenzial hat, eines der attraktivsten und am schnellsten wachsenden Wirtschaftszentren des Mittelmeerraums zu werden. Die internationale Gemeinschaft trägt die Verantwortung, den Rückfall Tunesiens in einen Teufelskreis aus Armut und Arbeitslosigkeit zu verhindern, der Populismus und Extremismus den Nährboden liefert. Wenn dies nicht gelingt, ist mit einem Export von Extremismus und einem kontinuierlichen Strom von Flüchtlingen aus der Region zu rechnen.

Wir rufen die Teilnehmer des G8-Gipfels in Deauville dazu auf, den tunesischen Übergang zur Demokratie zu unterstützen. Dazu sollte unter Tunesiens eigener Federführung eine "Road Map" erarbeitet werden. Dieser Plan sollte im Detail enthalten:
• Beihilfen für sofortige Nahrungsmittel- und Energiesubventionen sowie ein Umschulungsprogramm für arbeitslose Hochschulabsolventen.
• Ein G8-Hilfsprogramm im Umfang von 20 bis 30 Milliarden Dollar über einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren für gezielte Investitionen im Landesinnern, um alle Regionen Tunesiens zu öffnen (durch langfristige zinsgünstige Kredite, aber auch durch Kapitalhilfen). Es sollen der Transportsektor aufgebaut, die technologische Infrastruktur modernisiert und Industriezonen entwickelt werden. Zudem müssen konsequent kleinere Projekte in bislang vernachlässigten Bereichen gefördert werden, um das für eine Erholung der Wirtschaft dringend benötigte Vertrauen in den Privatsektor und das Kleinunternehmertum wieder herzustellen.
• Der Plan sollte darauf abzielen, einen wettbewerblichen Rahmen zu entwickeln, um die Entwicklung des Industrie- und Dienstleistungssektors mit kleinen und mittleren Unternehmen voranzutreiben. Dazu bedarf es einer Restrukturierung des Finanzsystems durch Rekapitalisierung der Banken, Ablösung von Altkrediten, Mikrofinanzierung, Investmentfonds, Anreize für die Einrichtung von Private-Equity-Fonds usw.
• Eine eindeutige Festlegung, wie und in welchem Zeitrahmen die internationalen Finanzinstitutionen der tunesischen Wirtschaft als Partner für Wachstum und Entwicklung zur Verfügung stehen.
• Die Einrichtung einer speziell für die Region zuständigen Finanzinstitution, da damit zu rechnen ist, dass weitere Nationen dem Beispiel Tunesiens und Ägyptens folgen werden.
• Eine Erklärung der europäischen Länder, dass sie Tunesien als "Assoziierten Partner" unterstützen und Zugang zu den Europäischen Strukturfonds gewähren.
• Die Schaffung eines Mechanismus, der den Wissenszugang verbessert und den Austausch zwischen jungen Menschen fördert.

Tunesien steht an vorderster Front des demokratischen Wandels in der arabischen Welt und hat aufgrund des hohen Bildungsniveaus seiner Bevölkerung und der vergleichsweise weit entwickelten Gleichberechtigung von Frauen sehr gute Voraussetzungen, nicht in den Sog des Extremismus zu geraten. Als relativ kleines Land bietet Tunesien ein ideales "Versuchsfeld" für die erfolgreiche Demokratisierung der Region. Der von uns geforderte Hilfsplan soll sicherstellen, dass dieses einzigartige Experiment von Erfolg gekrönt ist. Die Gesamtkosten entsprechen lediglich 2 bis 3 Prozent der Mittel, die die Bundesrepublik Deutschland für die Wiedervereinigung aufgewendet hat. Sie liegen sogar unter der Summe, die der Irakkrieg in zwei Monaten kostet.

Die internationale Gemeinschaft kann es sich nicht leisten, untätig zu bleiben.

Philippe Aghion (Harvard University, USA); Christian de Boissieu (Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne, Frankreich); Daniel Cohen (Ecole normale supérieure de Paris, Frankreich); Jean-Paul Fitoussi (Sciences-Po, Paris, Frankreich); Jean-Hervé Lorenzi (Université Paris-Dauphine und Präsident, Cercle des Economistes, Frankreich); Stefano Micossi (College of Europe, Belgien); Bernard Paranque (Euromed Management, Frankreich); Olivier Pastré (IMBank und Université Paris 8, Frankreich); Richard Portes (London Business School und CEPR, Großbritannien); Jean-Louis Reiffers (Université du Sud, Frankreich); Hélène Rey (London Business School, Großbritannien); Nouriel Roubini (New York University, USA); Joseph Stiglitz (Columbia University, USA); Klaus F. Zimmermann (Universität Bonn und IZA, Deutschland)


Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.

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