Warnung vor Selbstzufriedenheit: Wolfgang Clement im IZA Tower Talk

Logo
Im unmittelbaren Vorfeld der Bundestagswahlen bot der 27. IZA Tower Talk mit dem ehemaligen Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement und IZA-Direktor Klaus F. Zimmermann am 2. September Gelegenheit zur intensiven Diskussion aktueller Arbeitsmarktfragen. Sowohl Clement als auch Zimmermann betonten, dass Deutschland die aktuell günstige Wirtschaftslage zu weiteren Reformen statt zu deren Rückbau nutzen müsse. „Deutschland ist nur scheinbar gut aufgestellt, wenn es um die Bewältigung des demografischen Wandels, um die Bildungspolitik, die Energiewende und eine entschlossene Europapolitik geht“, so Clement. Ungeachtet guter Wachstumsraten und Arbeitsmarktszahlen werde das Land ohne weitere Veränderungsprozesse langfristig nicht wettbewerbsfähig bleiben. Als Beipiel führte Clement die „planwirtschaftliche Katastrophe“ der Energiewende an, die infolge der stark steigenden Strompreise zu Produktionsverlagerungen ins Ausland führe. Zimmermann sprach im gleichen Zusammenhang von einem „Kamikazeunternehmen“ – eine Energiewende könne nicht im nationalen Alleingang, sondern nur auf europäischer Ebene ohne ökonomische Verzerrungen gelingen.

Kritisch setzten sich Zimmermann und Clement mit der Europapolitik auseinander. Wohl sei die grenzüberschreitende Mobilität der Arbeitskräfte eine elementare Errungenschaft der EU, doch werde sie bei weitem nicht ausreichend gefördert und genutzt, um wirtschaftliche Ungleichgewichte innerhalb der Gemeinschaft besser auszugleichen. „Von einem europäischen Arbeitsmarkt sind wir noch weit entfernt“, kritisierte Zimmermann. Der demografisch bedingte Fachkräftemangel werde politisches Handeln an dieser Stelle dringender denn je machen. Zur Bewältigung der aktuellen Europakrise schlug Clement überdies ein ehrgeiziges Infrastrukturprogramm vor, das statt durch knappe öffentliche Kassen durch privates Kapital finanziert werden könne. Die Renditeerwartungen der privaten Investoren seien im Vergleich zu sonst drohenden Steuererhöhungen eher gering zu veranschlagen.
Den eklatanten Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials bezeichneten Clement und Zimmermann unisono als die gravierendste politische Herausforderung der kommenden Jahre. Dies gelte insbesondere für Deutschland mit seiner überdurchschnittlich geringen Geburtenrate und besonders hohen Fachkräftenachfrage. Clement forderte umfassende Initiativen zur Stärkung der frühkindlichen Bildung, zu mehr Chancengerechtigkeit in den Schullaufbahnen und zum besseren Übergang von der Schule in Ausbildung und Beruf. Gleichzeitig plädierte er für die Abschaffung des gesetzlichen Renteneintrittsalters, um Ältere und ihre Kompetenzen auf eigenen Wunsch länger im Arbeitsmarkt zu halten. Zimmermann verwies auf Vorschläge des IZA zur Abschaffung des Ehegattensplittings im Steuerrecht und ein Gutscheinverfahren zur Stimulierung des Wettbewerbs auf dem Gebiet qualifizierter Kinderbetreuung. Clement pflichtete Zimmermann bei, dass kostenfreier flächendeckender Kinderganztagsbetreuung der Vorzug vor kostenlosen Studiengängen gegeben werden müsse.

Einigkeit herrschte auch beim Thema politikimmanenter Reformnotwendigkeiten. An die Stelle oft lähmender föderaler Rivalitäten und Kompetenzstreitigkeiten müsse ein leistungsstarker Wettbewerbsföderalismus mit einer drastisch verringerten Zahl an Bundesländern und „Nebenregierungen“ treten. Auch könne sich die Politik Spielraum für die anstehenden strategischen Entscheidungen dadurch schaffen, dass sie Kompetenzen nicht besitzstandswahrend verteidige, sondern gezielt delegiere. Zimmermann nannte als Beispiel die Arbeitsmarktpolitik, die weitgehend in die Hand der Bundesagentur für Arbeit gelegt werden könne.

Der insgesamt bemerkenswert große Erfolg der Agenda 2010 beim schnellen Wandel Deutschlands vom „kranken Mann Europas“ zur „europäischen Wirtschaftslokomotive“ dürfe nicht in Vergessenheit geraten lassen, dass zuvor der Problemdruck massiv gewesen sei. Heute gehe es darum – so das Fazit Clements und Zimmermanns –, neuen Problemdruck durch vorausschauendes Handeln zu vermeiden, statt in Selbstzufriedenheit zu erstarren und wieder verstärkt auf staatliche Regulierung zu setzen.