IZA Tower Talk - Report

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IZA Tower Talk mit Meinhard Miegel: Plädoyer für die Abkehr von der Wachstumsgläubigkeit

Meinhard Miegel
Am 26. April 2006 war der Leiter des Bonner Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft (IWG), Meinhard Miegel, zu Gast im IZA Tower Talk. Gegenstand seines Vortrags und der anschließenden Diskussion mit Hilmar Schneider, IZA-Direktor Arbeitsmarktpolitik, war die Frage nach den Grenzen von Wirtschaftswachstum und kontinuierlicher Wohlstandsmehrung in den westlichen Industriestaaten.
Miegel diagnostizierte ein seit den 1970er Jahren im Westen durchweg nur noch durch Schuldenanhäufung ermöglichtes Wachstum, das keinen zusätzlichen Wohlstand mehr erzeugt habe, sondern seitdem lediglich noch zur „Aufrechterhaltung der Wohlstandsfassade“, zur bestmöglichen Sicherung des erreichten Status quo, aber zunehmend auch zur Finanzierung von Wohlstandskrankheiten, Rüstung, Terror- und Drogenbekämpfung sowie zum Schutz von Eigentumsrechten gebraucht werde. Parallel habe der innere Zusammenhalt der westlichen Gesellschaften erheblichen Schaden genommen, was sich nicht zuletzt in Kinderarmut äußere.

Es sei deshalb dringend an der Zeit, die allgegenwärtige Ressourcenvergeudung einzudämmen und sich von der Fixierung auf kontinuierliche materielle Zugewinne zu verabschieden. Der Aufholprozess von „hunderten Millionen Menschen“ in Staaten wie China oder Indien werde unweigerlich dazu führen, dass die arrivierten Staaten ihnen „ein spürbares Stück entgegenkommen“, also gewisse Wohlstandseinbußen hinnehmen müssten. Wenn jeden Tag 200.000 Erwerbspersonen aus den Schwellenländern auf den Weltarbeitsmarkt drängten, die es an Ausbildung und Motivation allemal mit den westlichen Arbeitskräften aufnehmen könnten, ihnen aber hinsichtlich ihrer Einkommenserwartungen alles andere als gleich seien, dann ziehe das folgerichtig eine schleichende Nivellierung der Einkommensverhältnisse im globalen Maßstab nach sich, die keinesfalls auf dem im Westen erreichten, überhöhten Niveau zu bewerkstelligen sein werde.

Die westlichen Industriestaaten haben, so Miegel, eine historisch einzigartige Wachstumsphase hinter sich gelassen und eine Phase „neuer Normalität“ erreicht, wenn auch noch nicht verinnerlicht. In Form von Lohnstagnation und sinkenden Renten, aber auch durch nachfragebedingt steigende Rohstoffpreise sei dieser Trend allerdings bereits für jeden Einzelnen spürbar geworden. Kein Wunder sei es auch, dass die insbesondere in Deutschland dank guter Wachstumsperspektiven in den 1960er und 1970er Jahren stark ausgeweiteten, hypertrophen Sozialsysteme heute unter veränderten Rahmenbedingungen nicht mehr funktionsfähig seien. Miegel unterstrich die Notwendigkeit weiterer umfassender Wirtschafts- und Arbeitsmarktreformen, mit denen man sich jedoch nicht der Illusion hingeben dürfe, einen alten, überlebten Zustand wieder herstellen zu können. Während sich die Schwellenländer im Aufbruch zu neuen Wohlstandsphasen befänden und von den Problemen des Westens damit noch Jahrzehnte entfernt seien, müssten die alternden und schrumpfenden Gesellschaften des Westens fortan weit sorgsamer mit ihren knapper werdenden Ressourcen umgehen, damit sie nicht Gefahr liefen, unnötig viel von ihrem eigenen Wohlstand einzubüßen. Das setze fundamentale Veränderungen von Sichtweisen und Lebenseinstellungen sowie neue, immaterielle gesellschaftliche Orientierungspunkte voraus.